Weihnachten. Die Geburt Jesu. Die jährlich wiederkehrende Einladung, zur Besinnung zu kommen. Innezuhalten und in Kontakt zu gehen mit dem, was zählt im Leben.
Liebe.
Liebe Dich selbst, liebe das Leben, liebe die Menschen, liebe die Tiere, liebe, was ist. Und vor allem: „Ich bin ein liebenswerter Mensch.“ Ein einfacher Satz, ein stiller Satz. Eine Wahrheit und eine Selbstverständlichkeit. Und doch… Wer von uns glaubt das tatsächlich?
Ich bin ein liebenswerter Mensch. Das meint nicht: beeindruckend, respektabel, klug, schön, reich, witzig, stark, clever, erfolgreich.
Ich bin ein liebenswerter Mensch. Obwohl oder unabhängig davon oder auch ohne, dass ich beeindruckend, respektabel, klug, schön, reich, witzig, stark, clever oder erfolgreich bin.
Wir kommen zur Welt und sind voller Liebe. Neugierig, vertrauend, mit unbändiger Lust aufs Leben. Ganz und gar eins mit uns selbst. Und dann kommt unsere Umgebung und formt uns. Gibt unserem Blick auf die Welt eine Form, eine Struktur. Jedem seine eigene. Seine eigene Wirklichkeit. Oft verschwindet die wahre Wirklichkeit hinter dieser Struktur-Wirklichkeit:
Erst wenn wir etwas leisten, erst wenn wir brav sind, erst wenn wir gute Noten bringen, erst wenn wir fügsam sind, erst wenn wir schön sind, erst wenn wir reich sind, erst wenn wir erfolgreich sind, erst wenn wir der Stärkste sind – dann, erst dann: fühlen wir uns ok. In Ordnung. Richtig. Liebenswert. Ein andauernder, aufreibender und aussichtsloser Kampf.
Doch scheinbar gibt es Abkürzungen, um zu der ersehnten wahren Wirklichkeit zurück zu gelangen: Wir müssen nur das richtige kaufen, essen oder posten. „Kauf! Iss! Poste!“ – die dreifaltige Einfalt unserer lieblosen Gegenwart. Der Kick der kurzen Erregung als Versuch, uns selber zu spüren. Das eigene Selbst wieder zu spüren.
Je rigider unsere Struktur, desto lauter der Versuch, Liebe zu spüren. Also: Noch mehr kaufen, noch mehr essen, noch sensationeller posten! Die Liebe aber ist ein stilles Ding…
Weihnachten wird immer kürzer. Die vier Wochen davor waren eigentlich dafür gedacht, Schritt für Schritt runterzukommen. Abstand zu nehmen von den Ablenkungen und Zumutungen des Lebens. Einen Schritt zurückzutreten, weg von der Außen- und hin zur Innenwelt. Zu dem einzigen Ort, wo wir es finden können: das Wissen und den Glauben daran, ein liebenswerter Mensch zu sein.
Eigentlich… Inzwischen aber ist die Adventszeit entartet wie eine Krebszelle. Jeder Tag, an dem ein Geschäft nicht offen hat, an dem ein Kurierdienst nicht liefert, ist geeignet, blanke Wut zu entfesseln. Ich will haben. Ich! Will! Haben!
Je schwerer es uns fällt, uns als liebenswerten Menschen anzunehmen, desto lauter fordern wir, desto vehementer lehnen wir ab. Eine Spirale des Habenwollens und des Hassens wütet durch unsere Köpfe, Medien und Netzwerke.
Die Liebe ist ein stilles Ding. Wer nach ihr schreit, erreicht sie nicht. All das, was wir mit unserem Verstand und unseren Fabriken zu erschaffen vermögen, hilft uns nicht, uns selbst zu lieben.
Eben noch war man ein bewunderter und gut bezahlter Coach und Trainer, geachtet für seine Fähigkeiten und klugen Worte. Drei Tage später war diese wunderbare Struktur, die ich mir in 51 Jahren aufgebaut habe, zerbröselt. Mein Körper brach binnen Minuten zusammen, den Notarzt konnte ich gerade eben noch herbeirufen. Es folgten drei Wochen Krankenhaus, die Hälfte auf der Intensivstation. Unfassbare Schmerzen, die Möglichkeit massiver Folgeschäden bis hin zum Tod lag in der Luft. Der Körper konnte nichts mehr außer Liegen. Alle Grundfunktionen bedurften der Hilfe anderer Menschen. Scham, Ohnmacht, Verzweiflung. Drei Wochen lang – bis es plötzlich wieder gut wurde.
Warum erzähle ich das?
In dieser Zeit des Krankseins gab es für mich nichts mehr zu wollen. Nur noch Sein im Jetzt. Jeglicher Widerstand führte zu noch mehr Leid. Hingabe an den Moment, Annehmen, was ist. Auch wenn man wortwörtlich in der Scheiße liegt und vor Schmerz wahnsinnig wird.
Genau in dieser Zeit, wo ich alles andere war als beeindruckend, souverän oder stark, genau in dieser Zeit, wo meine gesamte Struktur zerbrochen ist, bekam ich das Geschenk der Erkenntnis, ein liebenswerter Mensch zu sein.
Jeden Tag besuchten mich Freunde und Familie, schrieben mir, dachten an mich. Unterbezahlte Pfleger und Schwestern halfen mir in meinem Elend, kluge Ärzte suchten beharrlich nach Lösungen. Ich war auf dem Grund wie noch nie, tief in der Asche – aber ich war nicht allein. Ich war nicht allein – beim Schreiben dieses Satzes kommen mir immer noch die Tränen…
Ich durfte erkennen – endlich – dass ich niemanden beeindrucken muss, um liebenswert zu sein. Ich bin es bereits. Einfach, weil ich bin. Das zu erkennen, zu spüren, berührt zu beweinen, das war wohl die wichtigste und wertvollste Erfahrung in meinem und eine Weggabelung hin zu einem anderen Leben voller Tiefe, Wahrhaftigkeit und Lebensfreude.
Das Fest der Liebe. So beschreiben wir Weihnachten gerne. Und machen uns Geschenke. Ich habe dieses Jahr nur einen Wunsch. Ich wünsche mir, dass immer mehr Menschen sich in der Tiefe ihres Herzens für einen geliebten Menschen halten, und dass sie zu diesem Wissen gelangen ohne vorher auf ihre Weise leiden zu müssen.
Die Geburt Jesu ist ein Versprechen und eine Möglichkeit: „Ich liebe Dich“ und „Du kannst lieben“. So einfach, so wahr.
Von Herzen: Frohe Weihnachten!
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Lieber Harald, Danke für deinen Beitrag und innigen Worte. Wer sich selbst nicht liebt, kann auch andere nicht lieben. Alles Gute für dich Evelyn