Es gibt Coaching, und es gibt Coaching. Eines hält sich an die Regeln, aber oft kommt nur das andere wirklich zum Ziel. – Der Klient bestimmt Tempo und Tiefe, lernt der angehende Coach. Man dürfe einen Klienten nie überfordern und resümiert am Ende: „Wir konnten heute genau so weit gehen, wie wir gegangen sind.“
Alles richtig. Alles richtig?
Es ist heikel. Meine persönliche Erfahrung als Coach und als Klient lehrt mich etwas anderes: Wirkliches Weiterkommen – was auch immer das im Einzelnen heißt – habe ich immer dann erlebt, wenn der Coach den Klienten an den Rand der Komfortzone begleitet hat und den Mut und die Kompetenz besaß, ihn den Schritt in die Welt jenseits der Mauer gehen zu lassen.
Die Mauer, das Hindernis, das, was unbezwingbar und wahr erscheint, nenne ich W.O.S.T.A. – gebildet aus den Anfangsbuchstaben der Worte Wut, Ohnmacht, Scham, Trotz und Angst.
Wer sich einem Problem stellt, das ihn emotional belastet, begegnet fast immer seinem persönlichen W.O.S.T.A., denn wenn diese Emotionen nicht da wären, dann gäbe es auch kein Problem. Jedes Problem hat ein Hindernis, und unser System strebt nach der Sicherheit des Altbekannten: und das ist die Aufrechterhaltung der Mauer.
Damit die Mauer unüberwindbar wirkt, muss sie aus beinharten Ziegeln bestehen, und das sind im Allgemeinen Gefühle, die niemand gerne spürt.
Was hat das nun mit Coaching zu tun?
Es gibt sehr viele sehr gute Formate und Methoden, mit denen man dem zentralen Hindernis näher kommt. Das kann sehr sanft und achtsam geschehen. Wenn aber die Mauer des Klienten sehr hoch ist, d.h. sein W.O.S.T.A. sehr ausgeprägt ist, dann wird das Ego des Klienten dafür sorgen, dass der Klient den Coach nicht zu nahe an sich heranlässt.
Das führt dann zu Coaching-Gesprächen, in denen bald der Eindruck entsteht, dass man sich im Kreise dreht und irgendwie nicht weiter kommt.
Genau an dieser Stelle braucht es meines Erachtens den Mut und die Kompetenz des Coachs, den Klienten zu überraschen, zu irritieren, zu provozieren, denn der Zustand dieser „therapeutischen Verwirrung“ ist hervorragend geeignet, dem W.O.S.T.A. endlich ins Auge zu blicken.
Dann, und erst dann, kann der Coach zum Steigbügelhalter werden, mit dessen Hilfe der Klient die Mauer erklimmt (wahlweise einreißt, umgeht, durchbricht), um oben von dem neuen Ich, das er zukünftig sein könnte, mit kraftvollem Händedruck empfangen zu werden.
Ich weiß, dass ein solches Vorgehen der reinen Lehre des Systemischen Coachings widerspricht – und ich weiß auch, welches Vorgehen schneller und öfter zum Erfolg führt.
Wie aber kann man sicherstellen, dass das beherzte Vorgehen als Coach nicht ins Desaster führt? Sicher ist nichts. Aber wenn man sich darin übt, neben dem Verstand auch die Signale von Herz und Bauch mit einzubeziehen und darauf achtet, mit welchen Strategien das eigene Coach-Ego einen gerade in Versuchung führen will – dann stehen die Erfolgsaussichten verdammt gut.
Es braucht Mut, es braucht Erfahrung, es braucht Talent. Und es braucht den Wunsch zu heilen.
W.O.S.T.A. ist mächtig, aber das, was dahinter wartet, ist es wert, Risiken einzugehen, meine ich. Als Klient. Und als Coach.