Wir verwenden viel Energie darauf, zu klären, was männlich und was weiblich ist. Was ein Mann ist und was eine Frau. Auch gerne: Eine richtige Frau, ein richtiger Mann.
Dazu verwenden wir Merkmal-Listen, die als polare Gegensätze formuliert sind. Diese Merkmale ordnen wir einer der beiden Überschriften zu: Mann oder Frau.
Um die Merkmale zuzuordnen, bemühen wir Biologie, Geschichte, Religion, Psychologie, Philosophie, Politik usw.
Im nächsten Schritt ordnen wir beiden Überschriften bzw. beiden Merkmal-Sammlungen moralische Normen zu. „Als Mann musst du…“, „Als Mann darfst du nicht…“, „Als Frau musst du…“, „Als Frau darfst du nicht…“
Wenn’s mal irgendwie nicht klar zuzuordnen ist, sprechen wir notgedrungen von „Abweichung“ und nennen uns selbst „tolerant“.
Bei alldem haben wir den Blick auf den Merkmalen, die in einem Menschen sichtbar sind (in der Grafik farblich dargestellt). Je mehr Merkmale wir in den Blick nehmen und je mehr Menschen mitreden, desto mehr Möglichkeiten haben wir, uns zu streiten und dicke Bücher zu schreiben. Was wir auch leidenschaftlich tun.
An dieser Stelle möchte ich einen Vorschlag machen, der das ewige Streiten beenden könnte:
Wir verschieben den Fokus unserer Aufmerksamkeit.
Weg von den sichtbaren Merkmalen hin zu den – nicht sichtbaren – Merkmalen auf der jeweils gegenüberliegenden Seite (in der Grafik weiß dargestellt).
Konkret:
Wir fragen nicht: „Welche Merkmale hast Du?“, sondern „Welche Merkmale würdest Du gerne noch stärker ausprägen und kultivieren, um Dich als ganzer Mensch zu fühlen. Um Dein ganzes Potenzial von Mensch-Sein in Dir zu entwickeln?“
Und wir organisieren unsere Gesellschaft nicht länger in Mann-Frau-Schubladen, sondern so, dass alle so gut wie möglich die Möglichkeit bekommen, sich in sich selbst vollständig zu machen.
Kurz gesagt: Wir könnten uns dafür entscheiden, nicht auf das zu schauen, was bereits da ist, sondern auf das, was noch alles möglich sein könnte. Zukunft statt Vergangenheit. Nicht „wer bist du?“, sondern „wie willst du?“. Nicht “wer bin ich?”, sondern “was suche ich?”.
Wenn wir unser Denken – individuell wie auch gesellschaftlich – in dieser Weise ausrichten, würde die Frage „Mann oder Frau?“ überflüssig und geradezu unverständlich.
Kaum auszumalen, welch ungeheure Kapazitäten und Ressourcen freiwürden, wenn wir diesen Schritt wagten. Welches Leid nicht mehr erlitten werden müsste. Welche Selbstzweifel nicht mehr quälen würden.
Wer macht mit?
Mann-Frau-Grafik: AdobeStock_48788593