LeitendeAngestellte (40) fragt:
“Wie gehe ich mit allgemein fehlender Wertschätzung im Job um, wenn ich den Job mit großer Freude und vollster Überzeugung ausübe – also nicht wechseln möchte?”
Liebe LeitendeAngestellte,
zunächst einmal: Respekt! Sie sind offenbar so wert-voll für Ihr Unternehmen, dass dieses bereit ist, Ihnen jeden Monat Geld, die Hälfte Ihrer Sozialversicherungen und eine Infrastruktur für Ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen. Man schätzt Ihren Wert ganz messbar und real. Monat für Monat.
Noch dazu bereitet Ihnen Ihre Arbeit große Freude, und Sie stehen hinter dem,was Sie tun. Ein wunderbarer Anlass für Wertschätzung in Form von Dankbarkeit.
Ihr Beklagen fehlender Wertschätzung scheint mir daher in eine andere Richtung zu zielen. Weg vom Materiellen hin zu etwas Ideellem. Damit befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Gerade erst berichtet beispielsweise die Website personalwirtschaft.de von einer neuen Studie:
„Wird das Arbeitsklima im Team als schlecht bewertet, liegt es bei jedem Zweiten aller Befragten an der fehlenden Wertschätzung für die eigene Arbeit. Dicht dahinter folgen mangelndes Vertrauen zur Führungskraft (44,6 Prozent) und nicht vorhandenes Lob für die Arbeit (37,4 Prozent).“
Autonomie und Verbundenheit sind menschliche Grundbedürfnisse. Wir wollen selbst bestimmen und etwas bewirken – und dabei Teil einer stabilen Gemeinschaft sein, die einen sicheren Platz für uns bereit hält. In Ihrer Frage, liebe Frau LeitendeAngestellte, sprechen Sie also ein ganz grundsätzliches Thema an, mit dem sich alle Menschen auseinandersetzen.
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Bevor ich konkret nach Lösungsmöglichkeiten schaue, gestatten Sie mir bitte einen weiteren globalen Blick, um Ihr Anliegen einzuordnen:
Unsere Wirtschaft ist im Moment noch ego-getrieben. Am Ende des Tages werden wir nach unserer persönlichen Wertschöpfung beurteilt, bezahlt, bewertet, befördert. Den Bonus bekommt der, der seine persönlichen Ziele erreicht hat. Ob diese Ziele und die Art ihrer Erreichung der gesamten Organisation nützen oder Einzelnen sogar schaden, ist dabei in der Regal zweitrangig.
Sobald aber das Ego zentraler Bezugspunkt eines Unternehmens ist, kann das Wir nicht im Vordergrund stehen. Damit ist der Boden bereitet für Denk- und Verhaltensweisen, in denen Dinge wie Wertschätzung und Anerkennung Anderer schnell aus dem Blick geraten.
Wenn es hart auf hart kommt, lässt man auch schon mal die Kollegin auflaufen, macht den Mitarbeiter schlecht oder lästert über die Führungsmannschaft – wenn es dem eigenen Fortkommen dient, dem eigenen Stand im Unternehmen, dem eigenen Ego.
Noch ist unsere Arbeitswelt hierarchisch geprägt: Befehl und Gehorsam. Oben und unten. Wer aufsteigen will, schaut nach oben; nicht zur Seite.
Seit einiger Zeit nun gibt es verstärkt Versuche, mit dieser Tradition zu brechen. Begriffe wie Agilität, New Work, Theorie und Führung 4.0 beschreiben eine neue Art des Umgangs im Unternehmen: mit Wertschätzung, Vertrauen, Selbstwirksamkeit, Stärken-Fokussierung, Kooperation, Kollaboration, Wir-Gefühl. Gruppendenker statt Einzelkämpfer.
Dahinter steckt die Erfahrung, dass die alten Lösungen für die neuen Probleme immer weniger taugen. Die Welt ist zu komplex geworden, um Probleme auch weiterhin hierarchisch zu lösen.
Soweit also die globale Sicht, die zeigen soll, dass Sie mit Ihrer Erfahrung und Ihrem Wunsch nicht alleine sind. Dass es kein individuelles Problem ist – zumindest nicht nur – sondern sehr viele Menschen betrifft.
Was können Sie nun konkret tun, liebe LeitendeAngestellte?
Zuallererst könnte es hilfreich sein, dass Sie für sich klären, von wem genau Sie sich welche Art der Wertschätzung wünschen. Soll die Wertschätzung vom Vorgesetzten kommen, von den Mitarbeitern, von den Kollegen, von Partnern, von Kunden? Von Männern oder Frauen, von Älteren oder Jüngeren?
Wie soll die Wertschätzung genau aussehen? Wünschen Sie sich einfach etwas mehr Freundlichkeit im täglichen Umgang? Ab und zu ein Schön-Dass-Sie-Bei-Uns-Sind? Ein Lob in großer Runde, ein anerkennendes Wort unter vier Augen? Eine bessere Büroausstattung, ab und zu ein gemeinsames Fest?
Ich lade Sie ein, hier ehrlich und konkret zu werden – das wird Ihren Blick für neue Lösungsmöglichkeiten schärfen und Handlungsoptionen anbieten.
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An der Stelle ein kurzer Gedanke zum Thema Lob.
Gelobt wird von oben nach unten. Der Chef lobt den Mitarbeiter, die Lehrerin lobt die Schülerin, die Eltern loben das Kind. Lob ist immer auch Ausdruck von Hierarchie, Status und Macht.
Wenn es Ihnen um diese Form der Wertschätzung geht, wird es schwierig, denn Sie sind leitende Angestellte, d.h. in der Hierarchie schon weiter oben und haben demgemäß nicht mehr so viele Menschen über sich, die Sie überhaupt loben könnten. Und von unten kann kein Lob kommen.
An der Spitze wird es immer einsam…
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Wenn es Ihnen jedoch eher darum geht, dass man Sie als wichtigen Teil eines Teams sieht, dann könnten Sie Ihre eigene persönliche Graswurzel-Bewegung starten. Suchen Sie sich zwei Mitstreiter, die genauso denken wie Sie, und etablieren Sie in ihrer kleinen Gruppe genau die Art des Umgangs, die Sie sich wünschen.
Die Menschen um Sie herum werden das bald mitbekommen, und wenn der Spirit Ihrer kleinen Gruppe tatsächlich innerlich getragen ist – von Herzen kommt – werden Sie eine magnetische Ausstrahlung entwickeln, so dass nach und nach Andere kommen und sagen: Hey, das gefällt mir, das will ich auch!
Sie könnten auch Ihr Team zu einer solchen Keimzelle machen. Da Sie leitende Angestellte sind, gehe ich davon aus, dass Sie Führungskraft sind. Sie könnten also genau das in Ihrem Team kultivieren, was Sie sich für sich so sehr wünschen. Es wäre also zunächst ein Geben und ein Säen. Im Vertrauen darauf, dass die Zeit der Ernte kommt.
Bei beiden Varianten würde Selbstreflexion – der Blick auf die eigene Rollen als Wertschätzende – den Anfang machen.
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Bei alledem erscheint mir wichtig, nicht zu vergessen, dass man andere Menschen nicht ändern kann.
Wenn sich jemand grundsätzlich herablassend, kontrollierend, egoistisch, borniert, ausbeuterisch oder misstrauisch gibt – so ist das unangenehm und ärgerlich. Aber wir können es nicht (von außen) ändern. Das kann nur die Person selbst.
Menschen möchten nicht verändert werden. Weder in Liebesbeziehungen noch im Job. Führungskräfte sollten sich daher darauf konzentrieren, die Organisation zu verändern – im Vertrauen, dass die Menschen sich darin dann gerne auch persönlich weiterentwickeln.
Daher mag ich Ihnen folgende Frage ans Herz legen: Welche Strukturen könnten Sie realistischerweise beeinflussen, die in Ihrem persönlichen Arbeitsumfeld eine Atmosphäre von Wertschätzung besonders gut gedeihen lassen?
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Es gibt natürlich potentiell noch zwei andere Aspekte beim Thema Wertschätzung… Zwei eher unangenehme, und natürlich weiß ich nicht, ob die in Ihrem Fall von Bedeutung sind. Beide Aspekte haben etwas mit Bedürftigkeit zu tun.
Die wenigsten Menschen bekommen als Kind so viel Liebe, Anerkennung, Förderung, Freiheit und Bestätigung, wie sie es wirklich brauchen. Die meisten von uns wachsen mit einem Defizit an Wertschätzung bis hin zu schädigendem Verhalten auf.
Auf das hier besprochene Thema bezogen spielen dabei insbesondere die Väter eine wichtige Rolle, denn die meisten Führungskräfte sind nach wie vor Männer.
Väter, die ihren Kindern Wertschätzung, Anerkennung und Respekt vorenthalten, bereiten den Boden, dass ihre Kinder als Erwachsene beständig versuchen, dieses mentale Defizit auszugleichen. Nicht bewusst natürlich, aber der Mechanismus greift. Und so arbeiten sich viele Erwachsene an ihren Chefs ab auf der dringenden Suche nach Anerkennung und damit nach einem kleinen Stück seelischer Gesundung. Aber der Chef ist nicht der Papa, und die Mitarbeiter sind keine Kinder mehr, daher funktioniert das nicht. Man muss in sich selbst seinen Frieden finden mit der eigenen Lebenswunde.
Der zweite Aspekt: Nach meiner Erfahrung orientieren sich immer noch sehr viele Frauen an dem Wunsch, Männern gefallen zu wollen. Das wird dann zum Problem, wenn Selbstwert und Zufriedenheit vom männlichen Zuspruch abhängig werden und nur noch bedingt aus sich selbst heraus geschöpft werden können.
Ähnlich wie bei der fehlenden Vaterliebe kann dadurch ein Wunsch nach Wertschätzung durch (männliche) Vorgesetzte entstehen, der nicht befriedigt werden kann.
Ergänzung: Durch den weiblichen Wunsch, ranghöheren Männern zu gefallen, entsteht bisweilen auch nicht-wertschätzendes Verhalten, indem von Frau zu Frau intrigiert, geschädigt, missachtet wird.
Wie gesagt: Ich weiß nicht, ob diese Aspekte weiblicher Bedürftigkeit bei Ihnen irgendwie zutreffen. Wenn nicht: wunderbar!
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Liebe LeitendeAngestellte, ich kann Ihren Wunsch nach Wertschätzung im Job gut nachvollziehen. Und es ist ein Trauerspiel, dass wir uns unsere Welt so geschaffen haben, dass diese so oft unter die Räder kommt.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie darüber nicht unzufrieden werden, sondern sich die Freiheit und die Würde bewahren, ihre Welt in kleinen Schritten etwas besser zu machen.
Viel Erfolg dabei wünscht Ihr
Ich pfeife auf die Wertschätzung?! *smile