Christina (49):
„Lieber Herr Berenfänger, mich beschäftigen meine Kolleginnen, die ich seit einigen Jahren habe. Ich empfinde diese sehr launisch mir gegenüber. Eine Kollegin ist älter, eine jünger als ich. Beide sitzen in einem Büro – ich sitze separat von ihnen. Ich bin teilzeit beschäftigt, und sehr durchgetaktet – sonst könnte ich mein Pensum nicht schaffen. Trotzdem versuche ich auch in Zeiten extremen Stresses freundlich und hilfsbereit zu diesen Kolleginnen zu sein. Alleine sind sie auch meistens mir gegenüber o.k. Und dann gibt es wieder Zeiten, dann ist der Ton mir gegenüber sehr unduldsam, sehr genervt. Bis zu Situationen wo ich morgens ins Büro kam und ich nicht begrüßt wurde. Ich bin sehr ratlos – manchmal, wenn es mir zu weit ging, habe ich die Dinge angesprochen, die mir weh tun. Es ging meist nicht lange, dann war die alte Situation wieder da. Mein Problem ist, dass ich diese unguten Situationen ungern anspreche, weil ich befürchte, dann noch mehr Gegenwind zu bekommen… Danke für Ihre Sicht :-)“
Liebe Christina, wenn ich ihre Zeilen lese, entsteht in mir das Bild einer Frau, die zwischen den Stühlen sitzt. Ganz wortwörtlich: vom Alter her, mit ihren Arbeitszeiten, mit ihrer Arbeitshaltung, mit ihrer Art des Umgangs mit Kolleginnen. Das ist bestimmt nicht immer einfach.
Ich denke auch, dass Sie das nicht zum ersten Mal erleben: Dieses zwischen den Stühlen sitzen. Die eigenen Bedürfnisse und Grenzen als unwichtig erleben. In Sorge, was geschieht, wenn Sie den Mund aufmachen. Das Gefühl, es immer und vor allem den anderen recht machen zu müssen. Dieses jahrelange Erdulden.
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▶︎ Liebe Christina, bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit, und lassen Sie Ihre Gedanken auf Ihrer Lebenslinie zurück schweifen. Wann ist es Ihnen in Ihrem Leben zum letzten Mal gelungen, mit Gegenwind souverän klar zukommen? Und wann davor?
Welche Fähigkeiten, Qualitäten und Überzeugungen haben Ihnen damals geholfen, mit dem Wind klar zukommen, der Ihnen dort entgegen schlug? Was war hilfreich? Sie könnten versuchen, genau daran anzuknüpfen: Erinnern Sie sich an Ihre Erfolge hinsichtlich früherer Aufenthalte zwischen den Stühlen, und nutzen Sie die Stärken von damals auch heute.
▶︎ Zweite Übung. Wandern Sie noch einmal vor Ihrem inneren Auge rückwärts auf Ihrer Lebenslinie – bis zu dem Punkt, an dem es eine Situation gab, in der es Ihnen egal war, was andere über Sie dachten. Wo es Ihnen nicht wichtig war, was Menschen über Sie dachten, die wichtig für Sie sind. Wo Sie sich selber wichtiger waren als die Meinungen der anderen.
Und auch hier: Wie haben Sie das damals geschafft? Welche inneren oder äußeren Helfer, Ressourcen oder Unterstützungen hatten Sie damals? Seien es andere Menschen, innere Glaubenssätze, ein Krafttier, Ihr Glaube, was auch immer.
▶︎ Und schließlich: Denken Sie an Situationen, in den Sie anderen Menschen Grenzen setzen. Wo Sie andere in ihre Schranken weisen. Wo Sie die Oberhand haben – und das vielleicht sogar genießen. Selbstbewusst sich Ihrer selbst bewusst. Willensstark und machtvoll. Und ohne schlechtes Gewissen dabei. Auch diese Kompetenzen dürfen Sie nutzen und morgens mit ins Büro zu Ihren Kolleginnen bringen.
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Wir können andere Menschen nicht ändern. Erst recht nicht, wenn wir so wenig Einfluss auf sie haben, wie Sie in Ihrem Büro. An einem Ort, wo Sie täglich aus der Rolle fallen. Wo Sie anders sind.
Außerdem: Wer immer (nur) nett und zurückhaltend ist, bekommt Fleißkärtchen und einen Arschtritt – aber niemals Respekt und Anerkennung. Für’s brav sein wird man höchstens als 9-Jährige belohnt – als 49-Jährige gibt’s dafür nur gepflegtes Mobbing unter Kolleginnen…
Deswegen biete ich Ihnen, liebe Christina, folgende Sicht an: Konzentrieren Sie sich ganz auf Ihre Stärken, und wenn Sie merken, dass Ihnen alte Überzeugungen das Leben schwer machen, dann holen Sie sich für ein paar Stunden Unterstützung. Das Päckchen, dass wir aus unserer Kindheit mit uns schleppen, und das uns sagt, dass wir zu funktionieren haben und dass wir uns nicht so wichtig nehmen sollen und dass Gefahr droht, wenn wir selbstbestimmt und selbstbewusst handeln – dieses Päckchen kann manchmal ganz schön schwer sein und uns förmlich zu Boden ziehen. Auch wenn wir schon lange erwachsen sind.
Das ist nicht schlimm, das ist nicht schön, das ist das Leben. Und man kann es überwinden. Es lohnt sich!
Viel Erfolg!
PS. Allen Fragen und Antworten finden Sie wie immer hier