Die indische Antike könnten wir jetzt gut gebrauchen. Wenn damals zwei Streithähne vor Gericht erschienen und beide hatten in ihren Augen Recht und beharrten voller Kraft auf ihrem Standpunkt: dann nutzten die Richter eine Technik, die wir noch heute als Tetralemma kennen oder als Diamond-Format.
Ein Dilemma zeichnet sich dadurch aus, dass es genau zwei Möglichkeiten gibt: Urlaub am Meer oder Urlaub in den Bergen, kündigen oder bleiben, studieren oder eine Lehre beginnen.
Wer in einem Dilemma steckt, hat meist einen Tunnelblick. Es gibt sozusagen nur noch schwarz oder weiß, dieses oder jenes. Das führt dann gerne zu Ärger, Frust, Wut.
Die antiken indischen Richter luden die Kontrahenten dann ein, aus einem DI-lemma ein TETRA-lemma zu machen – aus einem Problem mit zwei Seiten eine Möglichkeit mit vier.
Ein Beispiel: Mann will ans Meer (Position 1), Frau will in die Berge (Position 2). Die 3. Position versucht ein Sowohl-Als-Auch, also eine Verbindung beider Positionen, z.B. erst ans Meer und dann in die Berge. Oder nach Korsika; da gibt es beides zugleich. Derartige Verbindungen gibt es mehr als ein Dutzend. Die 4. Position schließlich fragt danach, was weder das Eine noch Andere ist und dennoch relevant. Das könnte z.B. sein: Endlich mal Zeit für uns. Die Fragen, die dorthin führen, fragen danach, worum es auf einer höheren Ebene wirklich geht und noch nicht gesehen wurde.
Im Coaching bewirkt die Arbeit mit dem Tetralemma ganz wunderbare Erfahrungen und ungeahnte Lösungen lang festsitzender Probleme und schwelender Entscheidungen.
Und auch auf Gruppenebene kann man es gut nutzen; z.B. in der Team-Entwicklung.
Das Tetralemma unterstützt den Klienten, sich aus seinem Festgefahren-Sein zu lösen. Weit zu werden. Offen. Neue Perspektiven zuzulassen. Wichtig dabei: Das geht nicht im Kopf – das muss gefühlt werden.
Festgefahren scheint mir gerade auch unsere westliche Welt.
Aus öffentlichem Diskurs sind Shitstorms und Meinungsschlachten geworden. Wer nicht für mich ist, muss vernichtet werden. Wer eine andere Ansicht hat als die eigene, ist reaktionär, sexistisch, ein Gutmensch, links-versifft, Nazi usw.
Institutionen, Orte, Systeme, Menschen, die einigend wirken könnten, haben ihren Einfluss weitgehend verloren: Parteien, Kirchen, Oberhäupter, Journalisten, Künstler, Philosophen, Wissenschaftler. Und schon die Frage danach, wie das Gemeinsame einer Gemeinschaft aussehen könnte, wird mit Zorn beantwortet: Geifernde Wut auf die, die eine gemeinsame Identität suchen – Hass gegen die, die sie nicht wollen.
Zur Zeit scheint für viele die Wut der Kern ihrer Leitkultur zu sein.
Und seien wir ehrlich: da draußen drängt sich gerade keiner auf, der soviel Weisheit, Macht und Empathie besäße, uns Wütende zu einen. Wie also könnte eine 3. Position aussehen? Das scheint noch relativ leicht und doch im Moment unerreichbar: Es wäre wohl ein Mix aus Respekt, Zurückhaltung, Gelassenheit, Neugier, Interesse, Eigenverantwortung und Mitgefühl. Schwer genug.
Vielleicht liegt die Lösung ja in einer 4. Position. Vielleicht müssen wir mal ganz von uns und unseren Meinungen absehen. Mal Abstand nehmen vom ewigen ICH – und vom völkischen WIR.
Dem vietnamesischen Mönch, Schriftsteller und Dichter Thich Nhat Hanh wird die Aussage zugeschrieben: „Der nächste Buddha wird nicht in Form eines Individuums erscheinen. Der nächste Buddha könnte die Form einer Gemeinschaft annehmen, einer Gemeinschaft, welche Mitgefühl und liebevolle Zuwendung übt, einer Gemeinschaft, welche ein achtsames Leben übt. Dies könnte unser wichtigster Beitrag sein für das Überleben der Erde.“
Das könnte eine zielführende Perspektive sein. Die Führer unserer Staaten haben sich alle desavouiert: Hitler, Stalin, Mussolini, Franco, Trump, Erdogan, Le Pen, Jong Un, Duterte, usw. usw. Sie alle streb(t)en in letzter Konsequenz nach Vernichtung. Nach persönlicher Macht auf Kosten ihrer Völker.
Dieses Führer-Prinzip verabschiedet sich gerade. Was wir jetzt erleben, ist ein letztes wütend-arrogantes Aufbäumen derer, die gerne auf dieser Entwicklungsebene stehen bleiben wollen. Und die, die die alte Entwicklungsebene verlassen wollen, verstricken sich schnell mal in ignorante Besserwisserei.
Das Neue deutet sich an und ist noch nicht da. Ein Schwellenraum. Wann es sich durchsetzen wird, ist offen. Es braucht wie immer eine kritische Masse : es wird die Zeit kommen, da plötzlich an viele Orten Gemeinschaften entstehen, die eine Kultur des WIR pflegen und das ICH dabei nicht (mehr) unterdrücken.
Die Frage ist nicht, ob das geschieht. Die Frage ist, wann es geschieht. Und ob die Menschheit dafür eine läuternde Katstrophe braucht.
Herz-Grafik: © shumo4ka_Fotolia_129398240