In den letzten Tagen habe ich angehenden Coaches gezeigt, wie sie Elemente der Aufstellungsarbeit im Einzelcoaching einsetzen können. In den einzelnen Übungen hat sich wieder mal gezeigt, wie überraschend, wie berührend, wie unterstützend das (morphische) Feld ist, in dem wir uns in dieser Arbeit bewegen.
Und täglich grüßt das Murmeltier. So oder so ähnlich geschieht es jedes Mal, wenn man Aufstellungs-Newbies die ersten Schritte in der Systemischen Aufstellung zeigt und dann zum Üben und Ausprobieren einlädt (hier: Tetralemma/Diamond):
„Woher weiß ich denn, ob ich das richtige Keines-Von-Beiden ausgewählt habe? Wie kann ich wissen, wann sich das Fünfte Element zeigt?“ Die Teilnehmer zeigen sich unsicher auf ihrem Weg in die Übung und suchen nach Klarheit und Eindeutigkeit.
Meine Antwort: „Gar nicht. Wir können es nicht wissen. Wir können es nur spüren. Es geht um Hingabe. Hingabe an vieltausendfach bewährte Strukturen im mutigen Nicht-Wissen und im Vertrauen, dass in der kalten Präzision der Grammatik plötzlich der Raum aufgehen kann für ein Wunder, das uns mit Gefühlen und Erfahrungen beschenkt, die noch in der Sekunde vorher nicht einmal zu erahnen waren.“
In der Feedback-Runde berichteten die beiden Teilnehmer dann auch genau davon: Wie sie voller Skepsis Schritt für Schritt ins Format gegangen sind – und auf einmal mit Erkenntnissen und seelischen Berührungen in Kontakt kamen, mit denen sie nicht ansatzweise gerechnet hatten.
* * *
Eine andere Teilnehmerin verkündet erstaunt und ein wenig euphorisch: „Wenn mir das vorher jemand gesagt hätte, hätte ich gesagt, kein Problem, kenne ich schon, bin ich mit durch. Aber in dem Moment, als ich auf die Figuren vor mir geschaut habe – wow! Das war etwas ganz anderes!“
* * *
Wenn die Kleingruppen üben, gehe ich von einer zur anderen, schaue wie’s läuft und ob ich unterstützen kann. Dabei geschieht eines immer wieder und weckt jedes Mal große Freude in mir. Ich schaue auf ein Figurenbrett und lasse ein paar Momente wirken, was dort zu sehen ist, oder ich beobachte einen Coachee inmitten seiner Bodenanker – und dann geschieht es:
Urplötzlich taucht ein Impuls auf, der mich zu der Frage führt: „Wer fehlt hier? Was hättest Du jetzt gerne zur Verfügung? Welcher Schmerz ist jetzt gerade da, und was wünschst Du Dir am meisten?“ Das ist der Türöffner. Ohne zu zögern benennt der Coachee die Fähigkeit oder die Person, die hier fehlen. Die oftmals das ganze Leben gefehlt haben und (unbewusst) schmerzlich vermisst aber nie wirklich erkannt wurden.
In solchen Momenten verflüchtigt sich augenblicklich die Skepsis, löst sich die Maske auf, verschwindet die Kopfgesteuertheit – und Gesichter werden weich, Augen lachen, Tränen der Rührung finden ihren Platz.
* * *
Was geschieht da? Wir sind alle miteinander verbunden, und im Setting einer Aufstellung – ob mit Bodenankern, Figuren oder Menschen – wird es besonders leicht, sich mit dem (wissenden/morphischen) Feld zu verbinden, über das wir an die gesuchten Informationen kommen.
Man kann nicht wissen, dass neben den sechs Playmobilfiguren eine siebte fehlt. Aber man kann es spüren, wenn man sich dem Vertrauen ins Feld hingibt und die Wahrnehmung der Impulse kultiviert, die von dort verschenkt werden.
Natürlich helfen dabei auch Erfahrung, Übung und gutes Beobachten. Aber das alleine ist es nicht. Immer wieder erlebe ich es z.B., dass über einem Anfangsbild einer Aufstellung oder in einem rituellen Kreis von Seminarteilnehmern plötzlich ein Wort über einer Person oder über der Gruppe zu schweben scheint. Ein Wort, das die Lösung benennt, nach der hier in den nächsten Stunden gesucht werden wird.
* * *
Die Systemische Strukturaufstellung ist eine Grammatik, die trocken wie Knäckebrot daher kommt, und nicht wenige Aufstellungsleiter nutzen sie in ebenfalls staubtrockener, von jeder Emotion befreiten Art und Weise. Und trotzdem geschieht das Wunder, und tiefe Gefühle kommen an die Oberfläche und schenken Erkenntnis.
Es heißt, dass es noch keinen endgültigen Beweis gibt, warum Aufstellungen funktionieren. Ich persönlich glaube inzwischen, dass SySt® etwas beschreibt, was in der Feldarbeit (bsp. im MFL®) gefühlt wird.
Naturgemäß muss eine Beschreibung viel umfangreicher sein als das Beschriebene selbst, und so füllen die Grammatiken der SySt® mittlerweile hunderte von Seiten und führen oftmals zu ähnlichen Ergebnissen wie das Spüren im und übers Feld. Zwei Herangehensweisen mit ganz eigenen Möglichkeiten und Vorteilen.
Im Kern aber wird wirksam, dass wir alle miteinander verbunden sind und so auch über unser Selbst hinaus wachsen können – über Raum und Zeit hinweg.
* * *
Und noch etwas, das mir hier bedeutsam scheint. Ich erlebe immer wieder, wie groß der Widerstand beim Klienten ist, wenn man im Rahmen eines klassischen Coaching-Gesprächs auf neue, bisher ungesehene Aspekte aufmerksam macht. Dieser Widerstand tritt erst gar nicht auf oder schwindet sehr rasch, wenn der Klient den neuen Aspekt sieht, über das Feld hört und vor allem: spürt.
Persönlichkeitsentwicklung und Verhaltensänderungen im Tun und Denken gelingen nur über Emotionen. Und der Weg ins Feld ist derzeit eine der schnellsten, effektivsten und liebevollsten Möglichkeiten, diese Emotionen zu wecken. Und die Grammatik der SySt® erschafft auf ihre Weise einen Rahmen, eine Struktur, aus der das Wunder aufsteigen kann.
(Erstveröffentlichung: 14.9.2015)