Stefan (54)
„Ich habe mich entschlossen, meinen erfolgreichen, aber persönlich nicht mehr befriedigenden Beruf im nächsten Jahr nach fast 30 Jahren aufzugeben. Mir fehlt aber noch die Idee, wie es dann weitergeht – es ist also eher eine “Weg-Von-” als eine “Hin-Zu-” Entscheidung. Es hat sich nach der Entscheidung gar keine Erleichterung eingestellt, sondern eine ganz diffuse Leere. Haben Sie einen Rat?“
Lieber Stefan,
danke, dass Sie diese Irritation so bereitwillig mit uns teilen. Ihre Erfahrung ist tatsächlich keine seltene: Viele Aussteiger – aus dem Job, aus dem Land, aus der Beziehung… – spüren eine solche Bloß-Weg-Von-Hier-Energie. Sie kann ein enormer Antrieb sein, sich in Bewegung zu setzen, und das ist großartig. Aber ein fahrendes Fahrzeug braucht nicht nur einen Antrieb, sondern auch ein Navi samt Lenkrad. Diese Erfahrung machen Sie jetzt gerade, und sie kann enorm irritieren, weil sie so diametral den Erwartungen entgegensteht, die Sie so lange Zeit mit einem Ausstieg verbunden hatten. Daher: Die diffuse Leere, die sich bei Ihnen eingestellt hat, ist sozusagen etwas ganz Normales.
Natürlich werden Sie sich damit auseinandersetzen müssen, wie Sie Ihrem Weg-Von ein Hin-Zu an die Seite stellen können. Was Sie dazu brauchen, sind gute Fragen. Fragen, die darauf abzielen, Ihre Motive, Antriebe, Wünsche, Träume, Visionen und Missionen herauszukitzeln. Fragen, die Sie mit Sinn-Erleben in Kontakt bringen; mit dem, was über den konkreten Job hinausgeht. Fragen, mit denen Sie Ihr persönliches Wertegerüst klären: Von-Weg-Werte (Armut, Langeweile, Sinnlosigkeit usw.) ebenso wie Hin-Zu-Werte (Fülle, Spaß, Selbstwirksamkeit usw.).
Es gibt zwei Wege, an solche Fragen zu gelangen: Sie können sich Bücher kaufen (z.B. „Durchstarten zum Traumjob“ von Bolles) bzw. auf entsprechende Websites gehen, oder Sie leisten sich einen Berater, der Ihnen die richtigen Fragen stellt. Das Buch ist billiger, der Coach geht individuell auf Sie ein, beantwortet auch Fragen und kann Sie gegebenenfalls vor falschen Entscheidungen bewahren.
Ich mag Ihnen aber noch einen anderen Rat geben.
Offenbar waren Sie davon ausgegangen, Erleichterung zu erleben. Zu erleben, dass Ihr Leben auf einmal sehr viel leichter würde. Aber da war keine Leichtigkeit, sondern nur Leere. Das kann eine sehr verunsichernde Erfahrung sein. Zum einen durch die Leere selbst, die nicht greifbar ist und weder Ordnung noch Richtung besitzt – zum anderen durch die unerwartete Erkenntnis, jahrelang einer Täuschung aufgesessen gewesen und nun ent-täuscht worden zu sein.
Ich mag Ihnen also den Rat geben, sich genau das anzusehen, und zwar noch bevor Sie sich Ihren Traumberuf-Fragen widmen. Halten Sie inne, und schauen Sie sich diese Leere genau an. Wie fühlt Sie sich an? Wie genau sieht sie aus? Wie klingt Sie in Ihren Ohren? Und wie schmeckt Ihnen das?
So wie Grenzenlosigkeit keine Freiheit ist, sondern nur Chaos, so ist Leere keine Leichtigkeit. Wie also würden Sie am liebsten Halt gewinnen? Von wem und wodurch? Wen oder was vermissen Sie im Diffusen? Woher kennen Sie diese Gefühle, diese Erfahrung? Was haben Sie damals erlebt, und was hat Ihnen geholfen? Wann genau fühlen Sie sich leicht? Wie machen Sie das?
Die Auseinandersetzung mit der Leere ist ein Akt des Spürens, nicht des Wissens. Emotion statt Intellekt. Ein Akt des bewussten Sich-Öffnens in die diffuse Leere hinein – und durch sie hindurch. Es ist ein Akt der Stille, der Meditation.
Die Auseinandersetzung mit der Leere kann Mut erfordern, denn vielleicht begegnen Sie dabei unangenehmen Erinnerungen und Gefühlen. Gefühlen und Gedanken, die Sie wahrscheinlich gut kennen. Nicht selten stürzen wir uns in Aktivität – zum Beispiel in irgendeinen Job –, um unangenehme Gefühle bloß nicht oder nicht länger spüren zu müssen. Und wenn diese erste Hilfe funktioniert hat, bleiben wir dabei und erschaffen uns eine neue Gewohnheit – zum Beispiel jahrzehntelang einer Arbeit nachzugehen, die uns nicht befriedigt.
Lieber Stefan, ich rate Ihnen, diese Selbsterforschung zu machen, bevor Sie nach einem neuen Beruf suchen, denn ansonsten ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass sie ratzfatz wieder den alten Mustern folgen und eine schlechte Entscheidung hin zu einer neuen Täuschung treffen. Auch das können Sie mit sich selbst machen, aber sehr viel besser geht es in Begleitung (Einzelcoaching oder Gruppenseminar).
Und wenn es danach konkret wird, habe ich noch einen Rat. Versteifen Sie sich nicht auf das Buzz-Word „Traumberuf“! Ein Beruf, der Ihren Fähigkeiten gut entspricht, zu dem Sie ohne Magenschmerzen gehen, der Sie immer wieder selbstwirksam sein lässt und angemessen bezahlt wird – ein solcher Beruf wäre schon ein toller Beruf; auch ohne das Marketing-Wort “Traum”. Zudem setzt Ihnen Ihr Alter eine Leitplanke, die Sie im Berufsleben nicht mehr so frei und träumerisch sein lässt wie einen 20-Jährigen. Es ist, wie es ist.
Also, erst die Leere, dann die Fülle. Mit Mut und Neugier, mit Fleiß und Einsatz. Viel Erfolg!
Ihr
PS. Allen Fragen und Antworten finden Sie wie immer hier