Unsere Gesellschaft ist mächtig in Bewegung. Was gestern noch üblich war und kaum hinterfragt wurde, ist heute Anlass für wüste Beschimpfungen.
Gut, dass immer mehr Bürger anfangen, vermeintliche Selbstverständlichkeiten im Denken und Handeln unserer Gemeinschaft zu hinterfragen.
Erschreckend, dass es dabei immer öfter zu wahren Hassorgien kommt, weil jemand irgendwie nicht wusste, was irgendwie falsch war.
Dieser Text bietet einen Debattenbeitrag für eine Lösung jenseits von Hass und Beleidigtsein. Er fordert Bereitschaft zum Denken und bietet einen Hebel für mehr Frieden und Wachstum.
Warum dieser Text?
Auslöser waren zuletzt zwei Situationen:
- In der ZEIT schreibt der Journalist Georg Seeßlen: „Ich bin ein Rassist. (…) Nicht rassistisch zu sein in einer Gesellschaft, die immer noch rassistisch geprägt ist und in einer Kultur, die immer noch nicht mit ihrem rassistischen Erbe umzugehen gelernt hat, ist unmöglich.“
- Auf ihrer Website schildert die Autorin Joanne K. Rowling, wie sie für ihre Gedanken zum Thema Transsexualität mit Hass überschüttet wird.
Erster Punkt:
Wir alle sind Kinder unserer Ahnen. Niemand lebt losgelöst von seinen Vorfahren. Das gilt auf individueller wie auch auf kollektiver Ebene.
Jeder, der sich nur ein wenig mit Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt und das eigene Denken und Handeln hinterfragt, gelangt zu der Erkenntnis, dass ihn nicht nur die Menschen geprägt haben, die ihn großgezogen haben, sondern dass auch die Erfahrungen und Traumata der Vorfahren in ihm stecken, die bei seiner Geburt längst tot waren. So ist zum Beispiel der Zweite Weltkrieg lange vorbei – die Eindrücke von Mord, Flucht, Vernichtung, Hunger und Angst wirken jedoch bis tief in die Enkelgeneration der Opfer und Täter des Dritten Reiches.
Wir alle leben in Strukturen und müssen mit Systemen klarkommen, die wir uns nicht ausgesucht haben. Das ist nichts Gute und nichts Schlechtes; das ist einfach nur die Wirklichkeit des Lebens.
Zweiter Punkt:
Wir alle kennen die Aufforderung, in Konflikten sachlich zu bleiben und nicht persönlich zu werden, denn wir wissen aus leidvoller Erfahrung, dass eine persönliche Beleidigung nur in die Eskalation führt und niemals in eine positive Verhaltensänderung.
Mein Lateinlehrer beleidigte mich, ich sei blöd. Eine junge Frau, die kein Untergewicht hat, wird auf dem Schulhof oder auf Twitter als Fette Kuh bezeichnet. Ein Mann mit ungeschickter Wortwahl im Flirt ist rasch ein Arschloch. Und so weiter.
Ein Lehrer wird es mit dieser Wortwahl nicht schaffen, dass sich ein Schüler engagiert mit einem ungeliebten Schulfach beschäftigt, und ein dicker Mensch wird nicht dadurch dünn, dass man ihn beleidigt. Wenn es so einfach wäre, würde niemand mehr rauchen, niemand würde mehr Tiere quälen fürs billige Schnitzel, es gäbe überhaupt gar kein Verhalten mehr, mit dem wir uns oder anderen wissentlich Schaden zufügen.
Aber so einfach ist es mit uns Menschen nicht.
Dritter Punkt:
Gute Lehrer, Coaches oder Therapeuten wissen, dass Lernen nur gelingt, wenn die Lernenden emotional beteiligt sind, und zwar möglichst in Form von Begeisterung und Interesse und nicht in Form von Angst und Druck.
Den Nürnberger Trichter gibt es nicht, kein Motivationstrainer dieser Welt kann uns das bessere Verhalten ins Hirn hämmern, kein Lebenslänglich macht aus einem Übeltäter einen guten Menschen.
Wozu dieser Text?
Die Debatten der Gegenwart (Sexismus, Rassismus, Klima, Tierwohl usw.) eint der Ton, in dem diese Debatten ausgetragen werden. Vorwürfe, Anschuldigungen, Beleidigungen, Diffamierungen, Vernichtungsfantasien und Todesdrohungen sind an der Tagesordnung. Die Motive dahinter sind oftmals edel und gut, und doch kommt man sich vor wie auf einem Schlachtfeld wilder Barbaren.
Die, die so schimpfen und wüten, wünschen sich dabei nichts sehnlicher, als dass Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Rücksichtnahme, Einsicht, Freundlichkeit, Klugheit usw. Edel und gut. Und aussichtslos.
Den noch anders Denkenden zu beschimpfen, mag dem Ego gut tun und die Verbindung mit Gleichgesinnten stärken – das Verhalten des noch anders Denkenden ändern die gnadenlosen Zuschreibungen nicht.
Den Kreis rund machen:
Wenn der Journalist öffentlich jeden Deutschen als Rassisten beschreibt, so mag er dafür ehrenwerte Motive haben. Nur ist es eben auch eine abwertende Zuschreibung an das Selbstbild von 80 Millionen Menschen. „Du bist ein Rassist“ ist eine Beschreibung, die auf die Identität eines Menschen abzielt; nicht auf dessen Verhalten.
Was aber tut ein Mensch, der sich persönlich abgewertet sieht? Er weicht zurück, oder er greift an. Wessen Identität beleidigt wird, der schlägt zu oder macht sich klein. Niemals aber wird er sich in Ruhe hinsetzen und abwägend darüber nachsinnen, welche Fürs und Wider für eine eventuelle Verhaltensänderung sprechen. Wer jemanden persönlich angreift, als Mensch in seinem So-Sein, der muss damit rechnen, dass er sich gekränkt und beleidigt fühlt, was wiederum ein Erstarren in Schuld und schlechtem Gewissen nach sich zieht oder einen ebenso harten Gegenangriff.
Himmelweite Unterschiede:
„Auch innerhalb des Systems Polizei wirken manchmal noch rassistische Vorurteile und Reflexe“ statt „ACAB” (All Cops Are Bastards).
„Frau Rowling, wir teilen Ihre Kritik an manchen Aktivisten der transsexuellen Szene nicht.“ statt „Rowling, Du TERF!“ (Trans-Exclusionary Radical Feminism).
Streite ich für eine anständige Behandlung von Nutztieren? Oder fordere ich die Todesstrafe für Fleischesser und Pelzträger?
Kämpfe ich für eine sprachliche Abbildung von Gleichberechtigung? Oder diffamiere ich jeden als Sexisten, der seine Texte nicht gendert?
Die Herausforderung:
Hart in der Sache sein und zugleich liebevoll zum Menschen – heißt in der Praxis zum Beispiel: So sehr uns die Taten von Kinderschändern entsetzen: wir töten sie nicht, sondern sperren sie ein. So schrecklich es ist, wenn ein Mensch einem anderen Menschen Gewalt antut: er bleibt nicht für immer im Gefängnis, sondern bekommt in der Regel eine zweite Chance. Richter, insbesondere Jugendrichter, wissen, dass das Gefängnis niemanden zu einem besseren Menschen macht.
Also: So sehr wir daran leiden, dass es immer noch viel zu viele gibt, die sich sexistisch oder rassistisch äußern, so falsch wäre es, diese Menschen per se und grundsätzlich als Sexisten oder Rassisten zu bezeichnen. Denn damit kommen wir nicht weiter. Zuschreibungen wie Sexist, Rassist oder Nazi sollten den Menschen vorbehalten bleiben, die sich bewusst und absichtlich in dieser Weise äußern und verhalten!
Verben statt generalisierende Nominalisierungen
Ja, das staatliche Gefüge und die kulturelle Grundverfasstheit der USA sind tief von rassistischen Gedanken durchdrungen. Ja, Deutschland ist bis zur letzten Faser vom Holocaust geprägt. Ja, in unserer Polizei gibt es rassistisches Denken und Handeln. Ja, die drei großen abrahamitischen Religionen wären ohne Frauenfeindlichkeit nicht denkbar. Ja, unsere gesamte abendländische Kultur speist sich aus der Abwertung von Lust und körperlicher Liebe.
Aber!
Und Nein! Nicht jeder Amerikaner ist ein Rassist. Nicht jeder Deutsche ist ein Nazi. Nicht jeder Polizist ist ein Rassist. Nicht jeder Katholik, Moslem oder Jude ist ein Frauenfeind. Nicht jeder Europäer ist ein Gegner einer erwachsenen Sexualität.
Noch einmal:
Die westliche Welt öffnet gerade eine Büchse der Pandora nach der anderen, und wird keine je wieder zumachen (auch heute noch kriminell geführte Staaten wie Russland, China, Brasilien, Türkei oder Iran werden eines Tages diesen schmerzvollen Weg gehen; alle auf ihre Weise). Und wenn wir wollen, dass wir darüber nicht in Hass und Gewalt versinken, dann haben wir nur diese eine Chance: Im Anderen immer auch den Menschen sehen. Ganz gleich, wie er tickt. Radikale Menschenliebe, radikaler Verzicht auf Hass und Gewalt, radikale Geduld mit denen, die langsamer sind in ihrer Entwicklung.
Und immer auch: Sich kritisch prüfen. Wann laufe ich Gefahr, mit meinem hehren Anspruch selbst zu verhärten? Was habe ich davon, andere als Rassisten, Sexisten, TERF usw. zu kritisieren? Dient meine wütende Kritik der guten Sache – oder mehr meinem selbstgerechten Ego? Auch de Guten sind vor dem Bösen nicht gefeit.
Aber Achtung:
Das ist kein Freibrief für ein „Schwamm drüber“. Für „Aber Du!“. Für ein „Jetzt muss es doch auch mal gut sein.“ Für „Jetzt hab Dich doch nicht so.“ – Nein!
Wer Menschen zumutet, diskriminiert zu werden, weil sie schwarz, trans, dick, weiblich oder jüdisch sind, der darf sich nicht wundern, dass er erntet, was er gesät hat. Und die westliche Welt erntet gerade, was sie hunderte, manchmal tausende von Jahren gesät hat. Das wird nicht, das kann gar nicht nur friedlich ablaufen. Und es ist ein Wunder, dass die Schwarzen, die Frauen, die Juden so freundlich und friedlich bleiben angesichts dessen, was ihnen und ihren Ahnen zugefügt wurde.
Wir alle dürfen uns dankbar zeigen, dass die Kämpfe, die gerade stattfinden, nicht sehr viel blutiger stattfinden. Und es wäre wunderbar, wenn wir uns dieses Geschenks würdig erwiesen, indem wir nun alle auch den nächsten Schritt gingen. Hin zur Versöhnung, zur Freundlichkeit, zur Menschlichkeit:
- Mit Verben, statt mit Nominalisierungen
- Mit klaren Grenzsetzungen und Verzicht auf abwertende Zuschreibungen
- Mit Güte und mit Humor
- Ohne noch länger aufzuschieben und ohne blindwütiges Einreißen alles Alten
- Klar gegenüber Uneinsichtigen und achtsam für eigene Blinde Flecke
- Wütend aber ohne Hass; mit Heiligem statt Blindem Zorn
- Auf der Suche nach Verbindung, statt nach Spaltung
- Gerecht, statt selbstgerecht; stolz, statt eitel
- Ein Denken in Verantwortung, statt in Schuld und schlechtem Gewissen
- Mit Mut, die Dinge anzusehen, ohne gleich beleidigt zu sein
- Engagiert und doch geduldig
- Hart in der Sache und liebevoll zum Menschen