Jungen brauchen Männer, bei denen sie sich abgucken können, wie das geht: ein Mann werden. Wie immer „Mann“ aussieht: Hetero, homo, bi, wild, sanft, ein Macher, ein Denker, cis, trans, non-binär… Kommentar zum Artikel „Jung, männlich, abgehängt“ in der Zeit vom 11.9.2024
Je mehr der Junge erkennt, dass er anders ist und wird als Mama (keine Vulva), desto größer und dringender wird der Bedarf an männlichen Vor-Bildern, damit er sich wortwörtlich abgucken kann, was möglich ist.
Also: Wir brauchen Männer in der Kita, in der Grundschule, in allen weiterführenden Schulen. Am besten mit einer 50-Prozent-Quote. Wir brauchen immer wieder eine zeitweise Trennung der Geschlechter: um einen Raum zu haben für Persönliches und Intimes – und um der männlichen Aggression einen Ort zu geben, an dem sie (in einem sicheren Rahmen) kultiviert werden kann, ohne dass sie Mädchen schadet oder belästigt.
Wir brauchen Männer, die anwesend sind, damit Jungen lebendige Vorbilder haben und nicht auf virtuelle zurückgreifen müssen. Zu Hause und in allen Bildungseinrichtungen. Diese Vor-Bild-Männer müssen reife Männer sein; d.h. sie bieten den Jungen ein UND an: körperlich und nachdenklich, humorvoll und ernst, stark und weich, kämpfend und meditierend. Lust am Mann-Sein und feministisch. Strukturgebend und Vielfalt liebend. Klare Leitplanken gebend und einfache Lösungen ablehnend.
All das muss vor-gelebt werden – nicht vor-doziert. Jungen müssen sehen, hören, spüren, wie ein männliches Vorbild anständig mit Frauen, mit Macht, mit Aggression, mit sich selbst umgeht – Vorträge über Feminismus brauchen sie nicht.
Jeder Junge braucht eine Handvoll Männer, mit denen er eine Beziehung hat. Ein Vater reicht nicht, selbst wenn der nur halbtags arbeitet und ansonsten Care-Arbeit macht!
Wenn wir wollen, dass Jungen lebendig ins Leben kommen UND ihre Potenziale entdecken UND die Stereotype toxischer Männlichkeit links liegen lassen – dann brauchen wir 1.) gesellschaftsweit Strukturen, die erwachsene Männer dazu einladen, bringen, zwingen, sich so zu entwickeln, dass sie in ihrer Reife und Persönlichkeit als Vor-Bilder taugen (dann bekommen by the way auch mehr Männer besseren Sex). 2.) brauchen wir Kitas und Schulen, die so organisiert und ausgestattet sind, dass dort 50 % Männer arbeiten. Und zwar die richtigen. Und das auch noch gerne und freiwillig. Es braucht also Geld. Viel mehr Geld.
Bis dahin müssen wir die Mädchen vor unreifer Männlichkeit schützen: Jungs, die Ehren-Kultur wollen, müssen in eigene Klassen separiert werden. Wir brauchen punktuell Mädchen-Klassen, damit toxische Männlichkeit sie weder bremst noch bedrängt. Die Religionen bleiben draußen: Keine Schuld, keine Scham, keine Kreuze, keine Kopftücher. Religiöse Bildung ja, aber keine religiöse Praxis.
Im Moment kann niemand seriös sagen, welche männlichen Verhaltensweisen durch Genetik und welche durch Epigenetik entstehen. Was ererbt und was angeeignet wird. Was biologisch und was kulturell bedingt ist. Wir dürfen uns also davor hüten zu sagen, „so sind Jungen“ und „so sind Mädchen“. Was wir aber nutzen dürfen, ist die Erfahrung der Menschen, die jeden Tag mit Jungen zu tun haben. Wenn wir diese Erfahrungen ernst nehmen und Respekt vor Jungen zeigen, dann bieten wir unseren Söhnen jeden Tag viel mehr Möglichkeit für Bewegung, für Aggression, für Körperlichkeit, für Kampf, für Struktur, für ein Sich-Beweisen – UND für das Erleben von Grenzen (von außen und von innen).
PS. Was definitiv nicht hilfreich ist: Jetzt als Mann und Junge den misogynen Reflexen nachgeben und beleidigt und gekränkt auf die Erfolge der Mädchen schauen! Leider bieten viele Speaker, Autoren und Männer-Treffen Männern genau diese Haltung an. Statt die Erfolge der Mädchen zu feiern und diese als Ansporn zu nehmen, jammern sie über „arme Jungen, gemeine Lehrerinnen und böse Frauen“. Weg damit! So ein Denken generiert zwar zahlende Kunden und hörige Jünger – aber eben auch keine reifen, erfolgreichen und zufriedenen Jungen.
PPS. All das wissen wir schon lange. Spätestens seit den 90er-Jahren bieten die Buchhandlungen jedes Jahr neue Bücher an, in denen wir diese Erkenntnisse lesen können („Prinzenrolle“, Steve Biddulph, Björn Süfke und viele, viele andere). Der ZEIT-Autor scheint sie nicht zu kennen, aber der Artikel ist trotzdem gut.
Fotos/Grafiken: AdobeStock 66103911 / 70148628 / 76413822