Cornelia (46)
„Scheidung nach der (freundschaftlichen) Silberhochzeit? Lieber Herr Berenfänger, eine langjährige Freundin und ich hatten Karten für eine Veranstaltung gekauft. Kurze Zeit danach ergab sich für mich eine Operation, in deren Folge ich mehrere Monate arbeitsunfähig war. In der Zeit meiner Arbeitsunfähigkeit war ich aufgrund längerer innerbetrieblicher Schwierigkeiten mit meinem Chef darauf angewiesen, dass mein Arbeitgeber mich zum Zeitpunkt meiner Rückkehr anderweitig einsetzte. Während ich noch arbeitsunfähig war, rückte die Veranstaltung näher und ich erfuhr wenige Tage davor, dass Kollegen ebenfalls zu der Veranstaltung gehen. Mein behandelnder Arzt hatte mir die Teilnahme an der Veranstaltung freigestellt; wegen der beruflich angespannten Situation wollte ich jedoch die Veranstaltung lieber nicht besuchen. Meine Freundin teilte mir daraufhin mit, dass sie dies zum Anlass nehme, keine Veranstaltungen mehr mit mir zu besuchen, da es ihr in unserer langjährigen Freundschaft bereits zum zweiten Mal passiere, dass ich aufgrund von Arbeitsunfähigkeit gemeinsam geplante Veranstaltungen nicht wahrnehmen könne. Zudem entscheide sie dies so, da sie sicher sei, ich würde mich im umgekehrten Fall, träte er ein, ebenso verhalten (was ich nicht bestätigen kann). Ich bin noch etwas ratlos, wie ich mit dieser Information – und der über 25 Jahre währenden Freundschaft – umgehe und freue mich auf Ihre Perspektive – vielen Dank!“
Liebe Cornelia, Sie schreiben, Sie seien „ratlos“, wie Sie mit der Entscheidung Ihrer Freundin umgehen sollen. Liebe Cornelia, ich auch.
Ich versuche mal, mich heranzupirschen…
- Sie haben sich mit Ihrer Freundin zum Besuch einer Veranstaltung verabredet und frühzeitig Karten dafür gekauft.
- Sie sagen Sie den Besuch der Veranstaltung kurzfristig ab.
- Ihre Freundin teilt Ihnen mit, nie wieder eine Veranstaltung mit Ihnen zu besuchen, da Sie jetzt zum zweiten Mal abgesagt hätten.
Vielleicht ist Ihre Freundin ein eher kleinlicher Mensch. Abgemacht ist abgemacht; keine Ausnahmen!
Vielleicht hat Ihre Freundin schon länger keine Lust mehr, etwas mit Ihnen zu unternehmen und bisher nur keinen Mut gehabt, es Ihnen mitzuteilen.
Vielleicht hat sich Ihre Freundin auf den gemeinsamen Ausflug mit Ihnen gefreut und ist nach der kurzfristigen Absage schlicht enttäuscht – und wählt mit ihrer Absage für die Zukunft einen Weg, sich vor weiteren Enttäuschungen zu schützen und es Ihnen irgendwie heimzuzuzahlen.
Versammeln Sie zehn Menschen um einen Tisch, und lassen Sie sie wild fabulieren – die Liste möglicher Möglichkeiten würde lang und kreativ.
Die eigentliche Frage aber würde damit nur umschifft.
Die eigentliche Frage lautet: Warum wissen Sie nicht, worum es hier geht?
Meine Frage ist nicht moralisch gemeint im Sinne von „Warum hast Du Deine Hausaufgaben nicht gemacht?“ Sie drückt im reinsten Sinne ein Interesse aus, gespeist aus dem Erstaunen, dass so eine Entwicklung nach 25 Jahren (freundschaftlicher) Ehe möglich ist.
- Was bedeuten Ihnen beiden gemeinsame Aktivitäten?
- Welches Verhältnis pflegen Sie beide zu Aspekten wie Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit?
- Wie grenzen Sie Kleinlichkeit und Pedanterie davon ab?
- Welche Rolle spielen bei Ihnen Aspekte wie Spontaneität und Flexibilität?
- Wie grenzen Sie Oberflächlichkeit und Ichbezogenheit davon ab?
- Wie sprechen Sie miteinander?
- Wie klären Sie Konflikte miteinander?
- Welche Routinen oder Rituale haben Sie entwickelt, um mit Störgefühlen und Missstimmungen umzugehen?
- Welcher Geist prägt Ihre Beziehung? Woraus besteht Ihr Gerüst? Wie würden Sie Ihren Kern beschreiben?
- Welche Verletzungen haben Sie sich gegenseitig schon zugefügt?
- Welche Kompromisse mussten Sie schließen?
- Wo hat wer unter der anderen gelitten?
- Wo hat sich wer über die andere gewundert?
- Gibt es Eifersucht? Auf Liebespartner, finanzielle Mittel, Ausbildung, Kinder, Ansehen, Aussehen, Bildung, Fähigkeiten, Erlebtes, andere Freundinnen…
- Wie setzen Sie beide Grenzen? Wo haben Sie sich Grenzen aufgezeigt?
- Wie gehen Sie beide mit “Fehlverhalten” der jeweils anderen um? Eher mit Humor und Großzügigkeit oder mit Strafe und Missbilligung?
- Wer führt in Ihrer Beziehung, wer folgt? Wechselt das?
Sie sind mit diesem Menschen seit 25 Jahren befreundet. Mehr als die Hälfte Ihres Lebens. Sie benutzen gar das Wort „Silberhochzeit“. All das klingt nach einer tiefen Beziehung, nach Nähe und Vertrautheit. Zugleich scheinen diese Qualitäten in Ihrem Kontakt kaum vorhanden. Denn sonst wäre es zu dieser Eskalation kaum gekommen, oder Sie hätten zumindest eine Ahnung, worum es hier wirklich geht.
Noch etwas.
Ich lese in Ihrer Nachricht kein Bedauern darüber, eine lang geplante Aktivität mit Ihrer Freundin absagen zu müssen. Nur wenige Tage vor dem Termin, nachdem Sie sich beide schon vor Monaten dazu verabredet hatten. Was bedeutete Ihnen diese Veranstaltung? Was bedeutet Ihnen Ihre Absage für sich selbst und für Ihre Freundschaft?
Ich lese in Ihrer Nachricht kein Bedauern auf Seiten Ihrer Freundin. Sie schildern sie nüchtern handelnd; fast wie ein Automat. Haben Sie eine Idee, was ihr Ihr gemeinsamer Ausflug bedeutet hätte? Wie sie Ihre Absage erlebt hat?
Auch sonst schildern Sie keine Gefühle – weder bei ihr noch bei Ihnen. Sie machen zwar viele Worte, um den Sachverhalt zu schildern, aber emotional bleiben Sie weitgehend außen vor. Wie geht es Ihnen, wenn Sie nach 25 Jahren Freundschaft hören, mit Dir gehe ich nicht mehr weg? Gibt es da außer Ratlosigkeit noch anderes? Trauer, Wut, Erleichterung?
Noch etwas.
Was bedeuten Sie beide sich? Was bedeutet Ihnen Ihre Freundschaft? Was bedeutet Ihnen Ihre Freundin? Was Sie Ihrer Freundin?
Wenn die Antwort „viel“ lautet: Warum passiert das Ganze dann, und warum sind Sie ratlos, und warum sitzen Sie nicht längst bei einem Glas Wein zusammen und klären das Ganze?
Wenn die Antwort „weiß nicht genau“ lautet, wie soll es weitergehen? Soll es weitergehen? Was wollen Sie künftig füreinander sein? Welche Erwartungen haben Sie (noch) aneinander? Wie wollen Sie Ihrer beider Leben künftig bereichern?
Liebe Cornelia, ich bin weiterhin ratlos und kann nur hoffen, dass Ihnen mein freies Assoziieren einen Ansatzpunkt zur Klärung bietet. In jedem Fall empfehle ich Ihnen, Ihre Freundin direkt anzusprechen und ihr Ihre Ratlosigkeit offen mitzuteilen, wenn Ihnen an Ihrer Freundschaft etwas liegt. Gehen Sie ins Gespräch miteinander. In ein ehrliches und wahrhaftiges Gespräch. Hören Sie einander zu, ohne gleich zu werten. Sprechen Sie von sich, nicht über sich. Zeigen Sie einander Ihr Herz. Lernen Sie sich (neu) kennen. Danach können Sie entscheiden, wie es weitergeht. – Und sollte ein solches Gespräch unter keinen Umständen möglich sein, dann wäre das nicht schlimm, denn dann gäbe es gar keine Freundschaft.
Viel Erfolg dabei und herzliche Grüße
Ihr
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