Anonym61 (57):
„Schon in der Kinderstube durfte ich leider erleben, nur ausgenutzt, bzw. benutzt zu werden und weder Achtung noch Bestätigung zu bekommen. Das Schema hat sich in meinem gesamten Leben durchgezogen. Nun bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich oft denke, ich habe nichts mehr zu verlieren, man kann mir nichts mehr nehmen. Wie kann ich die Fähigkeit erlangen, aus meinem Schema auszubrechen und ein erfülltes, erfolgreiches Restleben ohne Betrug und Enttäuschung zu führen?“
Liebe oder lieber Anonym61, ich habe Ihre Nachricht wieder und wieder gelesen. Meine erste Reaktion war großes Mitgefühl, meine zweite Sorge. Von der dritten erzähle ich Ihnen gleich.
Ich höre einen Menschen, dessen Grundbedürfnis nach Kontakt, Vertrauen, Zuwendung, Individualität und Respekt offenbar nie angemessen gestillt wurde. Einen Menschen, der tief leidet an dem Defizit, das durch diese Vernachlässigung aufgerissen wurde.
Wir alle kommen zur Welt mit Lust und Neugier aufs Leben. Mit überbordendem Vertrauen in die Welt da draußen außerhalb von Mamis Bauch. Wenn die Welt da draußen ihren Job gut macht, bekommen wir zwar immer noch jede Menge Herausforderungen und Prüfungen, aber wir können damit schon irgendwie umgehen. Wenn die Welt ihren Job jedoch schlecht macht, wird etwas Wesentliches beschädigt.
Es gibt 1001 Möglichkeit, wie die Welt ihren Job schlecht machen kann. Zuerst die Mütter, dann die Väter, Verwandte, Kindergärten, Schulen, Peergroups. Alle tragen Verantwortung, das junge, zarte Leben zu lieben, das heißt zu beschützen, zu wärmen, zu bestätigen, zu nähren, zu kleiden, zu fördern, zu fordern. Es als Subjekt zu behandeln, wie Gerald Hüther es ausdrücken würde.
Es ist schlimm, wenn das geschieht – noch viel schlimmer ist, was daraus folgen kann: Der Mensch ist ein Lebewesen, das im Vergleich zu anderen (Tieren) sehr lang abhängig ist. Der kleine Mensch kann es gar nicht wagen, gegen schlechte Eltern aufzustehen, denn er müsste befürchten, von ihnen verlassen zu werden und in der Folge zu sterben. Noch dazu wäre er viele Jahre lang viel zu schwach dazu. Erst mit ca. 14 Jahren beginnt langsam die Zeit der Ablösung.
Aber der seelische Druck ist da! Vom ersten Moment an. Also stülpt der kleine Mensch eine Interpretation über Ganze: „Ich bin schuld. Ich habe es nicht anders verdient. So ist es eben. Stell dich nicht so an. Streng dich mehr an. Mach es allen recht.“
Sobald diese Struktur gebildet ist – und das ist meist nach den ersten drei Lebensjahren erledigt – wird der kleine Mensch sich selbst und die Welt nur noch durch diese Brille wahrnehmen. Das ist auch der Grund, warum Menschen, die als Kind übel behandelt wurden, oft auch als Erwachsene übel behandelt werden. Denn übel behandelt zu werden, ist ja Normalität.
Das hat sein Gutes. Die Struktur schützt uns. Sie spendet Halt, Sinn und Orientierung. Aber wir zahlen einen Preis dafür; den Preis der Selbstverleugnung, der fortgesetzten Beschädigung, der Entfremdung von uns selbst.
Manchmal kommt der Punkt, an dem wir den Preis, den wir für die stützende Struktur zahlen, zu hoch wird, und dann geraten wir in Aufruhr. Im schlimmsten Fall suchen wir dann den destruktiven Ausweg (Gewalt, Amok, Suizid, Selbstverletzung, Drogen usw.). Im besten Fall tun wir, was Sie tun, liebe oder lieber Anonym61: wir bitten um Hilfe.
Ich sprach eingangs von meiner zweiten Reaktion, der Sorge. „Ich habe nichts mehr zu verlieren, man kann mir nichts mehr nehmen“, schreiben Sie. Spontan dachte ich, hoffentlich tut er/sie niemandem etwas an.
Aber da war ja auch noch meine dritte Reaktion: Sie entstand durch längeres Hinschauen. Sie haben 57 Jahre Scheiße hinter sich und sind trotzdem noch bereit, etwas zu ändern. Sie haben sich einen fetten Funken Lust auf ein erfüllendes Leben bewahrt. Trotz allem.
In ihnen scheint also eine große Kraft zu stecken. Wäre dem nicht so, würden Sie sich oder der Welt etwas antun und einen Abschiedsbrief mit den Worten hinterlassen: „Ich habe nichts mehr zu verlieren, man kann mir nichts mehr nehmen.“
Und genau das tun Sie nicht. Respekt! Großartig!
Und jetzt zu Ihrer eigentlichen Frage nach dem Wie. Ich sage es offen heraus: Das geht nur mit der Unterstützung eines erfahrenen Begleiters. Coaching, Therapie, Gruppentherapie. Sie brauchen jemanden, der Sie all die Erfahrungen erleben und einüben lässt, die Sie so schmerzlich vermissen:
- Ernst genommen werden
- Beschützt werden
- Unterstützt werden
Es braucht jemanden, der Ihnen neue Strategien im Umgang mit Ihrer Lebenswunde anbietet und das Trainieren Ihrer neuen Fähigkeiten begleitet.
Und es braucht jemanden, der Sie fordert, denn am Ende des Tages müssen Sie sich trauen, aus dem Jammertal ins Freudental zu treten, und das braucht Mut und Entschlossenheit. Auch den Mut, eigene Schatten anzusehen; Seiten an sich zu akzeptieren, die Sie eher nicht mögen. Eigene Anteile am Schlamassel zu akzeptieren.
Suchen Sie sich einen Begleiter, liebe(r) Anonym61. Schon morgen!
Mit den allerbesten Wünschen für viele gute Momente in einem hoffentlich noch langen Leben,
Ihr
PS. Allen Fragen und Antworten finden Sie wie immer hier