Kerstin (55)
„Hallo, ich bin selbstständig seit 22 Jahren. Meine Umsätze und Kundenstamm wachsen kontinuierlich. Leider bin ich finanziell immer am Limit. Ich arbeite jeden Tag mind. 10 Stunden, befinde mich im Hamsterrad, sehe wenig Perspektive da raus zu kommen. Urlaub, Altersvorsorge sind ein Fremdwort. Manchmal bin ich kurz davor hinzuschmeißen, dann war aber alles umsonst. Was tun?“
Liebe Kerstin, erst einmal herzlichen Glückwunsch, dass Sie auch nach 22 Jahren der Selbständigkeit immer noch am Markt sind. Respekt, dass Ihnen in Umsatz und Kundenstamm beständig Wachstum gelingt. Hut ab, dass Sie auch mit 55 Jahren noch die Kondition und die Beharrlichkeit haben, jeden Tag aufs Neue harte Arbeit zu leisten und Ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Zugleich scheinen Sie in ständiger Gefahr zu leben. Ihre Gesundheit ist gefährdet, weil auf harte Arbeit keine angemessenen Erholungszeiten folgen. Ihr Lebensunterhalt ist gefährdet, weil für das Alter keine Rücklagen bzw. Vorsorge vorhanden sind. Ihr mentaler Zustand ist gefährdet, weil die ständige Angst vor dem Untergang ihren Tribut fordert.
(A) Wenn Sie an die Menschen denken, die Ihnen voraus gegangen sind; an Ihre Eltern und Großeltern: Welche Erfahrungen haben die mit der Angst vor dem Untergang gemacht? Ihre elterlichen und großelterlichen Ahnen haben vielleicht die Erfahrung gemacht, dass einem durch Krieg, Flucht und Vertreibung plötzlich alles genommen werden kann, was man sich mühsam und fleißig erarbeitet hatte?
(B) Wenn Sie an Ihre Kindheit denken: Haben Sie als Kind Liebe und Zuspruch in dem Maße bekommen, wie Sie es gebraucht haben? Oder entstand in Ihnen schon früh der Gedanke, eigentlich nicht wirklich geliebt zu sein? Nicht richtig, nicht in Ordnung zu sein? Und falls es so war: Wo haben Sie dieses Gefühl hingetan? Wie haben Sie es beiseiteschieben können, um nicht daran kaputt zu gehen?
(C) Wenn Sie an Ihre Mutter denken: Haben Sie von ihr eher gelernt, dass Sie (als Mädchen!) alles tun und erreichen können und dürfen, wovon Sie träumen? Oder haben Sie eher gelernt, dass es irgendwie falsch wäre, auf eigenen Füßen zu stehen; vielleicht sogar in finanzieller Unabhängigkeit von einem Mann?
Ich könnte Ihnen noch einige solcher Fragen stellen, aber für’s Erste mag es genügen. Worauf möchte ich hinaus?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es Probleme gibt, deren Lösung für Außenstehende ganz leicht scheint. In Ihrem Falle: Von allen Einnahmen einen sinnvollen Prozentsatz auf ein Extra-Konto legen, eine für Ihr Alter und Ihre Situation angemessene Altersvorsorge betreiben. C-Kunden aussortieren, um Ruhezeiten zu generieren, rechtzeitig Urlaub buchen etc. Auf der Ebene von Logistik und Formalismus ist die Lösung leicht und bedarf keiner Beratung durch einen Coach.
Dennoch gelingt Ihnen die Lösung nicht – deshalb, so meine Erfahrung, könnte es Sinn machen, auf einer anderen Ebene zu forschen. Auf einer Ebene, deren Wirkungsmacht nicht so offensichtlich ist.
Wenn – Variante (A) – Ihre Ahnen tiefe Angst und Unsicherheit erleben mussten, weil Ihnen zum Beispiel im Krieg ihr ganzer Besitz, ihre Altersvorsorge, ihr Luxus, genommen wurden und sie all dies gegen Angst, Beschämung und Hilflosigkeit eintauschen mussten: Dann wäre es kein seltenes Ereignis, wenn die Kinder- oder Enkel-Generation sich unbewusst so verhält, dass dieser Zustand reproduziert wird: Aus Respekt vor den Ahnen, aus dem kindlichen Wunsch heraus, ihnen ihr Leid abzunehmen, aus der Meinung heraus, dass es einem nicht besser ergehen dürfe als ihnen.
Wenn – Variante (B) – Sie als Kind zu wenig Liebe bekommen haben, d.h. zu wenig körperliche Zuneigung, zu wenig Worte der Bestätigung, zu wenig herzliche Gefühle über Blick und Augen, dann mussten Sie zwangsläufig lernen, nicht liebenswert zu sein. Denn das Kind kann Fehler und Versagen immer nur bei sich selbst sehen und niemals bei den Eltern. In einem kleinen Menschen, in dem der Gedanke entsteht, nicht liebenswert zu sein, entsteht aber zwangsläufig das Gefühl, verachtenswert zu sein. Ein solcher Gedanke sitzt wie ein Stachel im Unbewussten und tut alles, um nicht auf die Ebene des Bewusstseins gehoben zu werden, denn dort drohte ihm Entdeckung und Ausmerzung. Ein solcher Gedanke zeigt aber seine Wirkungsmacht im Handeln, indem es den Menschen so handeln lässt, dass der sich irgendwann im Spiegel ansieht und voller Verachtung sagt: „Siehste, bist halt ein Versager. Hast es ja auch nicht anders verdient.“ Und so entsteht paradoxerweise Sicherheit, denn die tiefe Struktur im Innern hat dann im Außen eine Bestätigung des eigenen Weltbilds gefunden. Die Struktur kann sich sicher sein, richtig zu liegen. Kongruenz und Authentizität, die einen hohen Preis fordern.
Wenn – Variante (C) – in Ihrem Elternhaus noch die Normen für Mädchen und Frauen gegolten haben, wie sie in den 50er-Jahren weitaus üblich waren, dann haben Sie wahrscheinlich eher gelernt, dass es für Sie als Mädchen im Leben nur darum geht, einen guten Mann zu finden, ihm ergeben den Haushalt zu führen, ihm regelmäßigen Beischlaf zu ermöglichen und ansonsten keine eigenen Ansprüche anzumelden. Aber Sie haben sich selbständig gemacht. Wurden Sie vom Elternhaus, von den Verwandten und Freunden dazu ermuntert, dafür wertgeschätzt und bewundert? Oder war es im Kern ein rebellischer Akt, der eigentlich noch immer der Bestrafung bedarf, zum Beispiel in Form finanzieller Gefahren? Geld-Mangel für ein vermeintliches Mängel-Wesen ohne Wert?
Liebe Kerstin, Sie sehen, dass ich mit beiden Händen im Nebel stochere; mit der Schrotflinte in den Busch schieße in der Hoffnung, einen Treffer zu landen…
Vielleicht liege ich mit den oben genannten Impulsen völlig daneben. Vielleicht steckt aber auch ein Körnchen Wahrheit in ihnen. In beiden Fällen würde ich die Empfehlung aussprechen wollen, die Lösung nicht alleine zu suchen sondern einen professionellen Gesprächspartner zu engagieren, der in der Lage ist, zwischen den Zeilen zu lesen und der ein Auge für Blinde Flecke hat.
Denn wie gesagt: Rein formal ist die Lösung einfach, und wer sich 22 Jahre als Unternehmerin am Markt hält, die ist intellektuell unzweifelhaft in der Lage, diese Lösung selbst zu erkennen. Da es aber offenbar nicht gelingt, vermute ich die Lösung auf einer Ebene, die dem Intellekt nicht zugänglich ist, und dort kommt man alleine oft nur schwer weiter.
Ganz gleich, wie Sie sich jetzt entscheiden, liebe Kerstin, bitte ich Sie um zwei Dinge:
Machen Sie sich klar, dass es Ihren Ahnen in deren vergangenem Leid nichts nützt, wenn Sie Ihrerseits heute leiden und oder scheitern, und zweitens
erweisen Sie sich bitte den Respekt, über sich zu denken, dass Sie in jedem Moment Ihres Lebens Ihr Bestes gegeben haben! Sie hatten an jedem einzelnen Tag gute und ehrenwerte Gründe, so zu handeln, wie Sie gehandelt oder gelassen haben. Das hatte seinen Preis, und den haben Sie bezahlt. Jetzt aber darf die Zeit der Selbstachtung und der Selbstliebe kommen: Das ist möglich. Das verdienen Sie. Das können Sie. Das sind Sie wert.
Herzlich,
Ihr
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