Beruf(ung)ssuchende (43)
„Ich möchte gern mein volles Potential und meine Berufung leben. Wie komme ich hier weiter, und wie komme ich an meine Berufung – das, wofür ich hier bin? Vielen Dank für die Antwort.“
Liebe Beruf(ung)ssuchende, Ihre Frage hat mich erst verwirrt – und dann interessiert. Die Art, wie Sie Ihre Frage formulieren, zeigt, worum es bei diesem Thema geht und worum eben nicht. Beides mag ich Ihnen schildern, und vielleicht finden Sie darin einen Ansatz für Ihre persönliche Antwort.
Sie fragen nach Ihrem Potenzial. Potenzial kommt vom lateinischen potentia, d.h. es geht um Macht und um Stärke – im beruflichen Kontext also um persönliche Stärken und Fähigkeiten sowie um die Orte, Rollen, Tätigkeiten, wo Sie sich machtvoll erleben. Wo Sie etwas bewegen, beeinflussen, steuern (könnten).
Sie fragen nach Ihrer Berufung. Eine Berufung fühlt, wer eine Stimme hört, die eine dazu beruft, eine ganz bestimmte Aufgabe ins Zentrum des eigenen Lebens zu stellen.
Beginnen wir mit Ihrem Potenzial. Dazu möchte ich Ihnen das PFF, das offizielle Potenzialfindungsformular, anbieten. Es besteht aus einer Reihe von Fragen, die Sie in genau dieser Reihenfolge schriftlich oder mündlich im Beisein eines Zuhörers beantworten. Sie können sich das Arbeitsblatt hier kostenfrei als PDF herunterladen.
Wie schaut’s aus? Konnten Sie die Fragen beantworten? Was fiel Ihnen leicht, was war schwer? Kamen Sie in Kontakt mit Faulheit oder Feigheit? Was hat Sie überrascht? Wovor sind Sie zurückgeschreckt? Wo spürten Sie innerlich Widerstand? Und schließlich: Was zeigt sich, wenn Sie Ihre Antworten betrachten? Haben Sie jetzt mehr Klarheit darüber, was Ihre Stärken und wo Sie machtvoll sind? Ja? Herzlichen Glückwunsch. Nein? Kommen Sie ins Coaching, und wir reden mal mit Ihren Hindernissen und Blockaden…
Nun zu Ihrer Berufung. Ganz offensichtlich hat Sie bisher noch kein Ruf ereilt, denn dann hätten Sie diese Frage nicht gestellt. So ein Ruf kann von zwei Orten kommen: Von innen oder von außen, und manchmal lässt sich die Herkunft gar nicht eindeutig unterscheiden.
Vielleicht gibt es ja auch gar keine Berufung für Sie… Wenn Sie diesen Gedanken für einen Moment in sich ausbreiten lassen: Was geschieht dann in Ihnen? Wie fühlt es sich an, berufungslos zu sein? Ist es ok, oder spüren Sie so etwas wie Trauer, Minderwertigkeit, Trotz oder Angst? Nein? Prima. Ja? Kommen Sie…
Vielleicht aber gibt es eine Berufung für Sie, und Sie haben das bisher nur noch nicht mitbekommen… Dazu möchte ich Ihnen einen Witz erzählen:
Eine Überschwemmung droht das Haus eines alten Mannes in den Fluten zu versenken. Doch als die Feuerwehr vorbeikommt und ihn auffordert zu flüchten, lehnt der alte Mann ab, mit der Begründung, dass Gott ihn retten würde, schließlich würde er jeden Tag zu Gott beten und der würde ihn sicherlich nicht einfach so ertrinken lassen. Die Fluten steigen aber immer höher und der alte Mann muss sich auf das Dach seines Hauses retten. Ein Boot kommt vorbei und will den alten Mann in Sicherheit bringen. Doch der lehnt erneut ab, mit der Begründung, dass Gott ihn retten würde, schließlich würde er jeden Tag zu Gott beten und der würde ihn sicherlich nicht einfach so ertrinken lassen. Doch das Wasser steigt höher und höher. Als der alte Mann schon bis zum Hals im Wasser steckt, kommt ein Hubschrauber vorbei, eine Strickleiter wird runtergelassen und er wird aufgefordert sich über die Leiter in den Hubschrauber zu retten. Doch wieder lehnt der alte Mann ab, mit der Begründung, dass Gott ihn retten würde, schließlich würde er jeden Tag zu Gott beten und der würde ihn sicherlich nicht einfach so ertrinken lassen. Die Flut schwillt weiter an, und schließlich ertrinkt der Mann. Im Himmel angekommen, begibt er sich schnurstracks zu Gott und beschwert sich: „Also hör’ mal, ich habe dich mein Leben lang gelobt, habe täglich zu dir gebetet, wieso hast du mir nicht geholfen?“ „Wieso ich Dir nicht geholfen habe?“, wundert sich Gott, „Was hätte ich denn sonst noch alles tun sollen? Erst schickte ich Dir die Feuerwehr, dann das Boot und schließlich den Hubschrauber! Einsteigen musst Du schon selbst!” (www.hahaha.de u.a.)
Der alte Mann in dem Witz war so sehr mit Loben, Preisen und Beten beschäftigt, dass er schließlich das Wesentliche aus den Augen verloren hatte. Was tun Sie, um das Wesentliche aus den Augen zu verlieren? Womit lenken Sie sich gewohnheitsmäßig ab? Essen, trinken, kiffen, rauchen, zocken, Sport, fernsehen, surfen, schneller bedeutungsloser Sex, shoppen, Facebook/Instagram/Twittter, hassen und hetzen, bequem sein, meckern, jammern, sich beschweren, zu viel arbeiten…
Wir haben unendlich viele Möglichkeiten, uns selbst aus dem Blick zu verlieren. Der Anstrengung von Impulskontrolle, Selbstdisziplin, Beharrlichkeit, Geduld, Eigenverantwortung, Alleinsein-Können, Mut und Selbstführung aus dem Weg zu gehen.
Das ist zutiefst menschlich und nichts Böses. Es hat nur eine gewichtige Nebenwirkung. Einem Ruf kommt nur dann Bedeutung zu, wenn ihn jemand hört. Um etwas zu hören, braucht es einen Empfänger. Um etwas zu empfangen, muss der Empfänger auf Empfang gestellt sein.
Langer Rede, kurzer Sinn: Ich und auch sonst niemand kann Ihnen sagen, ob für Sie eine persönliche Berufung bereitsteht. Was ich Ihnen aber sagen kann: Sie können viel dafür tun, Ihren Empfänger, das heißt sich selbst, auf Empfang zu stellen: Nebengeräusche (Ablenkungen) immer erfolgreicher beseitigen und Präsenz einüben (Impulskontrolle, Selbstdisziplin, Beharrlichkeit, Geduld, Eigenverantwortung, Alleinseinkönnen, Mut und Selbstführung).
Beim Potenzial geht es ums Machen. Bei der Berufung auch. Zunächst. Dann aber ums Loslassen und Vertrauen. Worum es jedoch nie geht: Dass Ihnen irgendjemand sagt, was Sie doch selbst herausfinden müssen. Und dürfen. Und können.
Liebe Beruf(ung)ssuchende, Sie haben in Ihrer Frage keinerlei Infos über sich und Ihr Leben preisgegeben, weshalb ich in meiner Antwort nicht auf Sie persönlich eingehen konnte, aber vielleicht verbirgt sich ja auch darin ein Ansatz: Machen Sie sich sichtbar! Machen Sie sich hörbar! Machen Sie sich erlebbar! Ich habe gehört, dass es dem Ruf manchmal leichter fällt, uns zu finden, wenn wir uns nicht vor ihm verstecken…
Viel Erfolg und viel Freude!
Ihr
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