Die Erde dreht sich um die Sonne.
Der Mensch stammt vom Affen ab.
Der Mensch ist affekt- und triebgesteuert.
Kopernikus, Darwin und Freud haben uns Menschen nicht nur wichtige Erkenntnisse gebracht sondern waren auch Auslöser für tiefgehende narzisstischen Kränkungen.
Ferdinand Otto beschreibt nun in der ZEIT eine vierte narzisstische Kränkung: „Die Klimakrise könnte also die vierte narzisstische Kränkung des Menschen sein: die unbequeme Wahrheit, dass seine Lebensweise auf Dauer die eigene Lebensgrundlage bedroht.“
Narzisstische Kränkung bedeutet hier, beleidigt darüber zu sein, sich kollektiv und individuell von Überlegenheitsfantasien und Omnipotenzgedanken lösen zu müssen. Weshalb es so uns Menschen auch so schwer fällt, das neue Wissen in neues Handeln umzusetzen.
Eine interessante Perspektive, die Otto hier anbietet. Und doch bleibt er auf halber Strecke stehen.
Die Kränkungen, die er beschreibt, sind im Kern Kränkungen der Männlichkeit. Es ist der unreife, infantile Mann, der mit seinem kindischen „Ich will aber!“ danach schreit, dass sich alles um ihn dreht, dass er der König der Welt ist, dass er alle beherrscht und dass er immer noch einen Größeren hat, mit dem er alle und alles unterwirft.
Die vier narzisstischen Kränkungen, die Kopernikus, Darwin, Freud und Thunberg ausgelöst haben, konnten nur deshalb ausgelöst werden, weil Männer die letzten 5.000 Jahre vor allem damit beschäftig waren, ausschließlich ihre männliche Qualität zu stärken (und ihren weiblichen Seelenanteil abzuspalten und verkümmern zu lassen).
Da aber jede Stärke zu einer Schwäche mutiert, wenn sie nicht zugleich ihre gegenüberliegende Qualität kultiviert, musste aus großartiger Männlichkeit immer öfter furchtbare Männlichkeit werden.
Aus männlichem In-Bewegung-Sein in Form von Gerichtetheit, Wille, Pflicht, Verantwortung für die eigenen Handlungen, Stellungnahme, Entscheidung und Entschiedenheit wurde herzlose Rechthaberei mit ihren Symptomen Ideologiebesessenheit, Formalismus,
Sezieren als Selbstzweck, Gefühlsarmut, Lebensferne. Außerdem Trennung auf allen Ebenen (wir-die, gut-schlecht, wert-unwert, Mann-Frau…) und eine tiefgehende Abwertung des Weiblichen – der Qualität an sich, der Mädchen und Frauen, der (Mutter) Erde.
Ja, die Zerstörung der Umwelt ist im Kern ein misogyner Akt – der lieblose Umgang mit Klima, Tier und Pflanze ist ein Symptom von Frauenhass.
Genau deshalb haben alle seelisch infantilen Herrscher-Männer nichts Eiligeres zu tun als Frauenrechte und Umweltschutz einzudämmen. Sie müssen alles tun, um nicht fühlen zu müssen, wie tief sie sich verrannt haben in ihrem verzerrten und pervertierten Bild von Mann-Sein. Und für die Hoffnung auf seelische Ruhe sind sie bereit, alle zu unterjochen, die nicht so denken wie sie; einschließlich der Zerstörung von allem, was nährt: Ein Bolsonaro muss den Amazonas abholzen, um inneren Frieden zu finden.
* * *
Die Qualität wird zur Schwäche, wenn die gegenüberliegende Qualität nicht ebenfalls integriert wird: Wer sparsam ist, tut gut daran, auch Großzügigkeit in sich zu kultivieren. Wer gut vertrauen kann, sollte auch Vorsicht nicht außer Acht lassen.
Es geht um Balance. Wenn die Balance nicht gewahrt ist, wenn die gegenüberliegende Qualität nicht integriert wird, neigen wir dazu, die jeweilige Qualität zu übertreiben. Wir werden in gewisser Weise maßlos und gehen dann von der Qualität weg hinein in deren Schwäche.
Ansonsten gebiert die Sparsamkeit den Geiz und die Großzügigkeit die Verschwendung – das Vertrauen eine blinde Vertrauensseligkeit und die Vorsicht ein paranoides Misstrauen. Genauso wie die Männlichkeit die herzlose Rechthaberei und die Weiblichkeit die kopflose Gefühligkeit hervorbringt.
* * *
Was ist zu tun?
Wir brauchen Männer und Strukturen, die Männer ermuntern, auch ihren weiblichen Seelenanteil zu kultivieren. Wir brauchen eine Umwelt, die Jungen nicht länger dazu ermuntert alles abzuspalten, was vermeintlich weiblich oder schwul ist. Wir brauchen Mütter, die aufhören, ihre Jungs zu arroganten Prinzen zu erziehen. Wir brauchen Väter, die das gesamte Spektrum menschlicher Gefühle zulassen und halten können; bei sich sich selbst und bei ihren Söhnen.
Wir brauchen Frauen, die so viel Männlichkeit in sich kultivieren, dass sie damit aufhören können, Opfer zu sein. Die damit aufhören, zuallererst gefallen zu wollen. Die ihren Status nicht über einen mächtigen Mann beziehen sondern über eigene Leistungen. Die ein gutes Gewissen dabei haben, ihr Selbstvertrauen und ihre eigene Sexualität zu leben. Die sich nirgendwo mehr in die zweite Reihe stellen; nicht in der Kirche, nicht in der Politik, nicht in der Wirtschaft, nicht in der Bekleidung oder in sonstigen Formen öffentlicher Sichtbarkeit.
* * *
Das, was jetzt ansteht, ist ein Komplettumbau unserer gesamten Kultur in Politik, Wirtschaft und Religion. Ein Umbau hin zu einer Welt, die das Weibliche – und die Frauen und die Mädchen – als genauso wichtig und wertvoll betrachtet wie das Männliche und die Männer und die Jungen.
Weil das, was wir zu tun haben, so allumfassend ist, ist auch der Hass, der Greta Thunberg entgegenschlägt, so maßlos und überbordend. Dieses Mädchen hält den seelisch kaputten Männern dieser Welt den Spiegel vor und zwingt sie, ihr Versagen, ihr Unglücklichsein und ihre Monstrosität zu erkennen.
Eine gewaltige narzisstische Kränkung.
– – –
Mehr hierzu finden Sie in meinem Buch “Der reife Mann. Männlichkeit jenseits der Polarität”
– – –
Bildnachweise:
Kopernikus: Von Unbekannt – http://www.frombork.art.pl/Ang10.htmhttps://www.welt.de/img/kultur/mobile152954235/1212503297-ci102l-w1024/Kopernikus-Gemaelde-in-Krakau.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=113500
Darwin: Von Elliott & Fry – Swarthmore.edu (1st version); Flickr (second version), original source Corbis Images, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=443325
Freud: Von Max Halberstadt – [ Christie’s], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64082854
Thunberg: Von Anders Hellberg – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=77270098