Diese Wochen fordern uns heraus. Massiv. Jeden Tag aufs Neue und immer wieder anders müssen wir einen Umgang mit Umständen finden, die wir uns nicht ausgesucht haben. In diesen Wochen kommt mir immer wieder mal Friedemann Schulz von Thun in den Sinn, der zwei Arten von Souveränität unterscheidet.
„In der Welt der Professionalität zählt die ‘Souveränität erster Ordnung’: Alles perfekt im Griff haben, keine Blöße, keine Schwäche, alles zielgerecht nach rationalem Kalkül. Die geglückte menschliche Entwicklung bringt hingegen eine ‘Souveränität zweiter Ordnung’ hervor, welche Schwächen und Fehler, Schuld und Scheitern, Verletztheit und Ratlosigkeit nicht ex-kommuniziert, sondern integriert, ohne dass ein Zacken aus der Krone bricht. Im Gegenteil: dies setzt die Krone der Souveränität höherer Ordnung erst wirklich auf.“ (Quelle)
Was heißt das konkret?
Wir könnten beispielsweise die aktuelle Ausnahmesituation hernehmen und uns prüfen, wie wir die Verletzung unserer Freiheit, unserer Individualität, unserer gewohnten Sicherheit, unseres Gefühls des Immer-Für-Alles-Gleich-Eine-Lösung-Habens gewinnbringend für uns nutzen.
Die eine Seite in uns will zurück in die Normalität, will die Maschine wieder anschmeißen, will, dass alles so wird wie vorher. Diese Seite in uns, dieser Spieler unseres Inneren Teams, will wieder alles im Griff haben. Keine Lust mehr auf Schwäche. Fick dich, Virus! Eine machtvolle Seite, kraftvoll und willensstark.
Aber da ist auch noch eine andere Seite… Nur ist die nicht einfach da. Die müssen wir aktiv einwechseln ins Innere Team. Dieser Spieler provoziert uns mit seiner Weisheit und Klugheit und seinem Verzicht auf lautes, polterndes Gerede. Dieser Spieler ist eine Zumutung; er mutet uns zu, uns mal zu muten (Online-Meeting-Deutsch für stummschalten…).
Der Souverän erster Ordnung prescht nach vorn – der Souverän zweiter Ordnung hält inne; tritt vielleicht sogar einen Schritt zurück. Wozu? Um einen besseren Überblick zu haben. Um nichts zu übersehen. Um alles mitzunehmen, was da ist.
Der Souverän erster Ordnung scheidet ab, was ihm nicht passt – der Souverän zweiter Ordnung integriert auch das. Wozu? Um ganz zu sein. Vollständig. Ein Beispiel: Als Soldat muss ich mich ganz auf die erste Ordnung konzentrieren. Muss Angst, Schmerz und Zweifel soweit wie möglich abspalten, um auf dem Schlachtfeld souverän zu kämpfen und zu überleben. Der Preis: Ich spalte wesentliche Teile meines Menschseins ab. Im ersten Moment hilft mir das, langfristig schade ich damit meiner Seele und meinem Umfeld.
Der wahre Held kann sich auch entscheiden zu kämpfen. Er kann sich entscheiden, Opfer zu bringen. Er kann sich entscheiden, sich verletzen oder gar töten zu lassen der guten Sache wegen. Als wahrer Held aber blendet er Angst, Schmerz und Zweifel nicht aus, sondern sieht sie an. Der wahre Held kämpft nicht nur im Außen, sondern (vor allem auch) im Innen. Den Kampf im Außen kämpft er MIT seinen inneren Dämonen. Das ist nicht leicht und nicht schön, birgt aber die Chance, trotz eventueller Verletzungen ganz und heil zu bleiben.
Wer in den Corona-Wochen so tut, als wäre als easypeasy, ist ein Idiot. Nichts ist gerade leicht, und für viele ist es verdammt schwer. Souveränes Auftreten zeichnet sich im Moment dadurch aus, die eigene Angefasstheit nicht zu leugnen. Die Grenzen der eigenen Gewissheit klar zu sehen und ohne Show zu benennen. All die sogenannten Experten, die jetzt ganz genau und zweifelsfrei zu wissen meinen, was falsch und was richtig ist, wirken nicht souverän, sondern kindisch. Irgendwie unter-entwickelt.
Also: Wenn Du alles, was derzeit schlimm ist, in den Koffer Deines Lebens packst: Auf welche Reise könntest Du dann gehen? Wie? Mit wem? Wann? Wozu?
Also #2: Wenn Dein persönliches Worst-Case-Szenario eintritt: Wie genau wirst Du die Krone wieder aufsetzen? Mit wessen Hilfe? Mit welchen Deiner Fähigkeiten? Welche unerwarteten Helfer könnten auftauchen und Dich unterstützen?
Also #3: Wenn das alles hier irgendwann vorbei ist – was immer „vorbei“ dann konkret bedeutet – wer könntest Du dann sein? Der wunderprächtige Phönix steigt immer aus der dunklen Asche auf… Auf welche Weise könntest Du strahlen, wenn Du dereinst aus der coronalen Asche aufsteigst? Wie möchtest Du strahlen? Wo? Für wen?
Souveränität erster Ordnung ist wichtig, und Souveränität zweiter Ordnung ist nichts für Feiglinge: Als ganze Menschen stehen wir nur auf beiden Säulen stabil.
Viel Erfolg!