Was sagt Ihre Frau dazu, dass Sie jetzt Frauenkleider tragen? Tragen Sie auch Damenunterwäsche? Schlafen Sie jetzt auch mit Männern? Nachdem die SchülerInnen etwas Mut gefasst haben, stellen Sie ihre Fragen. Offen und ehrlich und neugierig. Erst zu mir als Person…
…und als wir das geklärt haben, darüber, was sie sich für ihr Leben (in Deutschland) wünschen:
Liebe, Freiheit, Erfolg… Aber auch: Dass die Toten nicht mehr tot sein mögen, dass die Faschisten verschwinden, dass sie einen Weg finden, mit Armut, Flucht, Krieg und Folter klarzukommen.

Janine Webb (Moderation) und Franny Berenfänger (Wertebotschafterin)
42 Jahre ist es her, dass ich 16 Jahre alt war – heute, mit 58, besuche ich zum ersten Mal zwei 10. Schulklassen, um in den Dialog zu gehen mit denen, die heute Teenager sind.
In Zusammenarbeit mit GermanDream haben die SchülerInnen zuvor ihre Werte erforscht – und sind heute eingeladen, mit mir darüber zu sprechen. Nicht mit ihrer Lehrerin, sondern mit einer Externen. 60 Minuten lang stellen sie ihre Fragen, gehen behutsam und mutig in die Öffnung, teilen ihre Ängste, Verletzungen und Wünsche. Verbinden das alles mit ihren Werten (als deutsche Staatsbürger):
- „Bei uns zu Hause gibt es keine gesunden Beziehungen.“
- „Was halten Sie davon, dass die AfD jetzt so stark ist?“
- „Wie finden Sie das, wie man mit Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie umgegangen ist?“
Ich war sehr gespannt, was in meinem ersten Einsatz als Wertebotschafterin für GermanDream passieren würde. Würde ich einen Draht zu den SchülerInnen herstellen können? Was treibt sie um? Wie wird die Stimmung im Klassenraum? Bekomme ich Gegenwind?
Womit ich nicht gerechnet hatte: In beiden Klassen werden als die wichtigsten Werte folgende genannt: Familie, Religion, Gesundheit. Das ganz große Besteck.
Und bald erschrecke ich: Da sitzen junge Männer und Frauen in einer Lebensphase, in der es aus meiner Sicht vor allem um Spaß, Freunde, Sichausprobieren, Grenzentesten, Erste Liebe, Eltern provozieren, Partymachen gehen sollte – aber die Lebenssituation dieser 16-Jährigen unterscheidet sich fundamental von meiner Zeit als 16-Jähriger: Ihnen geht es in weiten Teilen ums reine Überleben:
- Bei manchen im wörtlichen Sinne mit allem, was Krieg so hergibt (Syrien, Ukraine, Angst vor dem Tod…).
- Bei manchen im seelischen Sinne (dysfunktionales Elternhaus…).
- Bei nahezu allen im politisch-gesellschaftlichen Sinne (AfD, Trump, Covid, Ohnmacht angesichts eines zänkischen Bundestags).
Familie und Religion sollen hierbei Halt und Geborgenheit bieten – Freiheit, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung werden da meist als zweitrangig gewertet. Gesundheit ist schon 16-Jährigen wichtig angesichts verletzter Seelen, verstümmelter, vergewaltigter oder ermordeter Freunde und Familienmitglieder.
Und dann sitze ich da. Ein Mensch, der beruflich davon lebt, Menschen Impulse, Gedanken und Wissen anzubieten, und plötzlich kommen mir die Sorgen von Führungskräften, Unternehmern und Mitarbeitern fast pupsig vor, wenn 40 junge Menschen wissen wollen, wie sie ihre Angst regulieren sollen in einer Welt, in der sie sich zutiefst ohnmächtig fühlen. In einer Welt, die ihnen auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden fast nur Krieg und Faschismus anzubieten scheint. In einer Zeit, in der das Klarkommen mit Nichtwissen und krassen Ambivalenzen zur wichtigsten Stärke wird. In Umfeldern, in denen ihre Werte offenbar nicht ernst genommen werden.
Und dann reden wir. Über den Wert des Redens, des Dialogs. Darüber, dass der erste Schritt zu mehr Frieden der ist, den Andern nur als anders zu sehen, nicht als Feind abzuwerten. Darüber, dass Erfolg zu haben eine bessere Rache an verachtenden Lehrern ist, als diese zu verprügeln. Dass allein schon die Tatsache, dass sie mit einem Mann reden, der auch eine Frau ist oder mit einer Frau, die den Körper eines Mannes hat, aktive Demokratie- und Friedensarbeit ist.
Bisweilen habe ich den Eindruck, dass manch respektvolles Wort von mir das erste respektvolle Wort ist, das sie je von einem Fremden hören dürfen…
Diese Begegnungen heute morgen werde ich nicht vergessen, und ich hoffe, dass ihnen viele weitere folgen.
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Foto Frau-Mit-Ausgestreckten-Armen: AdobeStock_9866540