Mandy-Chantall (41)
Lieber Harald, wie kann man sich als einfache Angestellte gesund von seinem Vorgesetzten abgrenzen, ohne dass es die innere Unzufriedenheit oder Leere bei seinem Vorgesetzten triggert? Meine bisherigen Versuche – wohlwollend einfühlsam, wertschätzend mit Respekt auf Augenhöhe – haben nie funktioniert; zumindest nicht langfristig.
Liebe Mandy-Chantall, wogegen möchten Sie sich abgrenzen? Dumme Sprüche, sexuelle Übergriffe, unangemessene Vertraulichkeiten? Welche Dimension hat das, was auf der anderen Seite Ihrer Grenze bleiben soll? Gefährdet es Sie (seelisch und oder gesundheitlich)? Ist es etwas Illegales?
Abgrenzen lernt man am besten praktisch – nur durchs Lesen wird das nicht gelingen, denn das Setzen von Grenzen hat auch eine körperliche Dimension. Daher empfehle ich einen entsprechenden Praxis-Workshop; in Ihrem Fall einen, in dem Frauen lernen, sich gegen Männer zu behaupten.
Aber einen Impuls möchte ich Ihnen schon jetzt und hier ans geplagte Herz legen. Sie möchten sich „wohlwollend einfühlsam, wertschätzend mit Respekt auf Augenhöhe“ abgrenzen. Vergessen Sie’s! Eine Grenze ist eine Grenze und kein Kuschelkurs. Zu glauben, man könne eine Grenze setzen und aufrechterhalten, ohne das Risiko einzugehen, den anderen zu irritieren, zu verletzen, zu verärgern oder in ein Nest seelischer Probleme zu pieksen, ist nicht möglich.
Wer sich abgrenzt, geht ein Risiko ein – wer kein Risiko eingehen will, kann sich nicht abgrenzen!
Natürlich macht der Ton die Musik, und es empfiehlt sich, auf Vulgaritäten, globalgalaktische Beschuldigungen, Geheule oder Wutschnauben zu verzichten: Hart in der Sache UND liebevoll zum Menschen. So weit wie möglich Ich-Botschaften senden, statt vorwürfliche Du-Botschaften: „Ich möchte nicht so behandelt werden“ statt „Hör auf damit, Du Idiot!“
In jedem Kontakt mit anderen Menschen lauert die Möglichkeit, dass unser Gegenüber etwas aus dieser Kommunikation nutzt, um sich für alte Verletzungen in sich zu öffnen. Das kann anstrengend, überraschend und erschreckend sein – aber das wäre das Problem Ihres Vorgesetzten und nicht Ihres!
Sie schreiben von der oft beschworenen „Augenhöhe“. Die aber gibt es bei Ihnen beiden nur bedingt! Auf der Ebene des Mensch-Seins sind Sie auf Augenhöhe, aber hier gibt es noch die Ebene der Rollen: Er Keks, Sie Krümel. Als Vorgesetzter ist er Ihnen vorgesetzt. Er entscheidet, mit welchen Tätigkeiten Sie Ihren Tag verbringen. Er entscheidet, wieviel Geld Sie dafür bekommen. Er entscheidet, ob Sie morgen noch diesen Job haben. Er entscheidet, wann Sie Urlaub machen usw. Das macht das Grenzensetzen nicht leichter, aber es ist notwendig, dass Sie den Wunsch nach Augenhöhe aufgeben, bevor Sie mit ihm in den Ring steigen. Andernfalls würden Sie außerhalb der Realitäten kämpfen, was es noch schwerer machte.
Und schließlich: Sie sind eine Frau, Ihr Vorgesetzter ist ein Mann. Bisher besitzen nur wenige männliche Vorgesetzte den Reifegrad, Kritik von weiblichen Mitarbeitern anzunehmen ohne gekränkt zurückzuschlagen. Auch in dieser Hinsicht wäre es hilfreich, solche Grenzsetzungen zuvor in einem gefahrlosen Workshop-Umfeld einzuüben.
Liebe Mandy-Chantall, ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrem Kampf. Ihrem inneren und Ihrem äußeren.
PS. Allen Fragen und Antworten finden Sie wie immer hier