Jeder Mensch hat sie. Diese eine Sache. Die, mit der er diese Welt bereichert. Wirklich bereichert. Diese Sache ist der Job, für den wir eigentlich angetreten sind hier auf Erden: unsere Lebensvision. Unsere vornehmste, heiligste Tätigkeit.
Bei manchen Menschen zeigt sie sich früh, bei den meisten erst später. Wenn Siege und Niederlagen eingesammelt wurden. Wenn sich ganz langsam der Gedanke einschleicht: War das schon alles?
Bin ich der, der ich sein könnte?
Und wenn nicht: Wie finde ich heraus, was meine Aufgabe ist?
Kaum jemals zuvor in der Geschichte hatten Menschen so viele Möglichkeiten wie wir heute hier. Nie wurde individuelle Freiheit größer geschrieben. Jeder Versuch, persönliche Freiheit einzuschränken, erntet Stürme geballten Zorns.
Und doch…
Und doch schleicht sich an immer mehr Menschen die Ahnung heran, dass es neben all dem, was sie tun könnten, eine Sache geben könnte, die sie tun müssten.
Eine Sache, in der es voll und ganz auf einen selbst ankommt – und bei der zugleich nichts unwichtiger ist als man selbst. In der das eigene Ego der größte Gegenspieler ist, der alles tut, damit das Selbst, unsere Seele, unser Kern, nicht das Ruder übernimmt.
Wer um sein (Über-) Leben kämpfen muss, muss ICH sagen. Wer satt ist, muss WIR sagen.
WIR nicht im Sinne von Selbstaufgabe sondern im Herausfinden der edelsten Aufgabe des Selbst als Dienst an der Welt.
Diese Aufgabe kann nur gelingen, wenn man sich ihr ganz verschreibt. Voll und ganz, ganz und gar.
Wer satt ist, wer alles hat, wer alles haben könnte und noch mehr, dem hat die Welt das Privileg geschenkt, sich vom HABEN lösen zu können, um im SEIN anzukommen.
Das heißt nicht, dass man allen Besitz wegwerfen, ein Bettelmann werden muss. Es geht eben gerade nicht um das, was wir haben oder nicht haben, sondern darum, worauf wir unseren Fokus richten.
Es geht um eine Entscheidung. Es geht darum zu scheiden, was zukünftig noch zu einem gehören soll und was nicht. Es geht darum, was alles losgelassen werden muss, damit das Selbst überhaupt eine Chance hat, sich gegen die Ablenkungen durchzusetzen, die das Ego im Laufe der Zeit angesammelt hat.
Denn genau das ist ja das, was unser Ego will. Uns ablenken von uns sebst. Von dem, was wir wirklich wollen. Was wir wirklich können. Was wir müssten, wenn wir ehrlich sind mit uns.
Das kann bedeuten, sich von Besitz zu trennen, sich von Menschen zu trennen. Muss aber nicht. Die eigentliche Trennung findet im Innen statt. An den Stellen, an denen wir tief drin noch anhänglich sind. Noch etwas erwarten. Trotzig haben wollen. Beleidigt bedürftig.
Je mehr wir unserem Ego seine Synapsen entziehen, desto klarer wird unser Geist. Je klarer unser Geist wird, desto mehr ziehen wir uns von all dem Überfluss zurück, der bis dahin unser Denken und Fühlen verkleistert hat.
Ein Perpetuum Mobile des Erwachens entsteht. Aufwachen ist das Gebot der Stunde. Die Bettdecke lüften, unter der man sich wohlig eingerichtet hat – abgeschirmt und wohlbehütet vor der Sache, für die wir doch eigentlich hier auf Erden sind.
Dann lüften wir die Decke. Schauen vorsichtig nach draußen. In welche Richtung sollen wir blicken? Wir blinzeln; alles so hell hier draußen. Ziehen uns noch manches Mal wieder zurück, ehe wir die Decke ganz abstreifen.
Aufwachen, erwachen, ist ein Akt des Sich-Herausschälens. Wir schälen uns aus den Dingen und Tätigkeiten heraus, denen wir erlaubt haben, unser Leben in Struktur zu halten. Und wir schälen Stück für Stück aus uns heraus, was endlich ans Licht will. Was so lang gewartet hat. Was ohne uns nicht lebendig werden kann und was zugleich so viel wichtiger ist als wir selbst.
Es gibt einen ganz speziellen Ort, wo das Herausschälen beginnt. Das ist beruhigend, denn so müssen wir nicht groß suchen, wo wir anfangen sollen. Und das ist erschreckend, denn dieser Ort ist auch der Ort unserer Alpträume. Unser ganzes Leben haben wir darum aufgebaut, ihn niemals aufsuchen zu müssen. Ihn weiträumig zu umfahren, ihn mit den höchsten Mauern von uns fernzuhalten.
Der Ort, wo wir am besten unsere heiligste Lebensaufgabe entdecken können, ist dort, wo unsere größte Verletzung sitzt. Die Wunde unseres Lebens.
Wunden tun weh. Unser Körper ist ein Wunderwerk, wenn es darum geht, Wunden heilen zu lassen. Er bildet Schorf, schafft Narben, glättet, restauriert, ersetzt. Die meisten Wunden vergessen wir, selbst wenn sie mal heftig geschmerzt haben.
Aber da gibt es die eine Wunde, die wir niemals vergessen. Die sich tief in unsere Seele gebohrt hat. Meist findet unser Ego ausgeklügelte Strategien, sie vergessen zu machen. Aber was unser Kopf nicht mehr weiß, ist deshalb noch lange nicht vergessen.
Unser Herz vergisst niemals, welche Wunde ihm geschlagen wurde. Unser Herz erinnert uns unermüdlich an unsere zentrale Verletzung, und so wird unsere Lebenswunde zum eigentlichen Wegweiser unseres Lebens.
Paradox. Das, was wir unter allen Umständen abstreifen wollen, wird zum unbeirrbaren Richtungsweiser unseres Lebens. Zum Kompass, dem wir umso mehr folgen, je mehr wir ihn loswerden wollen.
Wer herausfinden möchte, wofür er hier ist. Wer sich selbst aus sich selbst heraus schälen möchte, dem kann man also nur eines zurufen: Bleibe stehen und halte inne. Fasse allen Mut, den du in dir hast. Atme tief durch und vertraue. Und dann schau dir deine Wunde an. Kratze nicht nur an der Oberfläche sondern stoße bis zum Kern vor.
Denn dort, auf dem tiefsten Grund deiner tiefsten Verletzung warten schon die Engel, um dir mit donnerndem Halleluja das Tor zu öffnen, durch das hindurch du dahin gelangst, was mit Fug und Recht dein eigentliches Leben genannt werden darf.
Heldenreise nennt man diesen Weg. Seit Jahrtausenden erzählen sich die Menschen überall auf der Welt davon. Sie erzählen, wie der Alltag plötzlich durch einen Ruf unterbrochen wird. Ein Ruf, der einen jähen Richtungswechsel verlangt und damit wütenden Widerstand hervor ruft. Ein Ruf, der einen irgendwann an die Schwelle treibt. Die Schwelle, die das alte Leben unwiderruflich vom neuen scheidet. Die Schwelle, auf der wir nur zurück klar sehen können und vorne nur undurchsichtigen Nebel.
Auf der Heldenreise treffen wir wunderliche Gestalten. Neue Freunde und Gefährten. Alte und neuen Feinde. Wir stoßen auf Tests und Prüfungen. Stellen uns Herausforderungen, kämpfen, stürzen, landen im Dreck. Stehen wieder auf, gehen weiter. Im besten Falle mit einem Mentor an unserer Seite und gut bewaffnet. Wenn wir überleben, ziehen wir in die ultimative Schlacht. Wenn wir die auch überleben, kehren wir wieder in unser altes Leben zurück – in unseren Händen der Schatz, für den wir uns einst über die Schwelle gewagt hatten.
Wir kehren zurück. Und sind doch nicht mehr die alten. Unser altes Ich ist verschwunden und hat unserem Selbst Platz gemacht, das der Welt den Schatz bringt, den die Welt braucht. Den nur das ICH erringen konnte. Der dem WIR gehört.
Niemand kann einem sagen, welche Lebensaufgabe in einem schlummert. Dies muss man selber herausfinden. Alleine aber kann man es nicht herausfinden, das weiß das Ego zu verhindern. Man braucht einen Begleiter, der weiter ist als man selbst. Der einem den Weg in den tiefsten Dreck zeigt – und bei einem bleibt, wenn man drin sitzt. Der einen halten kann, wenn die Dämonen kommen und die Wut und die Angst und die Zweifel. Kraftvoll, gelassen, klar. Voller Vertrauen und mit einer Prise Humor.
Die drei schwersten Wege unseres Lebens gehen wir alleine: Geburt, Heldenreise, Tod. Niemand kann uns das abnehmen. Zugleich brauchen wir Menschen, die uns auf diesem Höllenritt begleiten, damit wir nicht vom Weg abkommen.
Geburt und Tod können wir nicht entkommen, der Heldenreise schon. Wir müssen sie nicht antreten. Je privilegierter wir leben, umso leichter ist es, ihr zu entrinnen.
Vielleicht ist das die größte Prüfung: Sich im Satt-Sein den Hunger zu bewahren auf das, was wirklich nährt. Den Snack auszuschlagen, und sich die Zeit zu nehmen, das wahre Festessen anzurichten.
Für die ureigene Lebensaufgabe. Für uns selbst. Für die Welt.
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