Neulich habe ich Alica Ryba kennengelernt. Coach-Kollegin und Wirtschaftspsychologin. Gerade hat sie ihr neues Buch veröffentlich – gemeinsam verfasst mit dem Biologen und Hirnforscher Prof. Gerhard Roth:
„Coaching, Beratung und Gehirn. Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte“
Auf 350 Seiten erfährt man alles über den aktuellen Stand der Neurobiologie in Bezug auf Möglichkeiten und Grenzen in Coaching und Therapie.
Es geht um: Gehirn, Psyche und Persönlichkeit, Lernen und Gedächtnis, Bewusstsein, Vor- und Unbewusstes, Motivation und Veränderbarkeit, Bindung und Verstehen, Freud und Erickson uvm.
Sehr erhellend, wie ähnlich sich Coaching und Therapie im Grundsatz sind und klug, welche Schlussfolgerungen die Autoren ziehen in ihrer Empfehlung für qualitativ hochwertige Persönlichkeitsentwicklung – das Buch ist eine überbordende Fundgrube an Wissen und ein Plädoyer für eine noch umfassendere Qualifizierung der Berater, insb. derjenigen, die als Coaches arbeiten.
- Spannend: Bei allen Tools und Methoden, bei allen elektrischen und chemischen Reaktionen in unserem Körper bleibt die Qualität der Bindung zwischen Coach/Therapeut und Klient/Patient ein zentraler Faktor für Erfolg oder Misserfolg in der Beratung.
- Ganz klare Erkenntnis: Der Mensch ist in erster Linie ein fühlendes Wesen. Einen kognitiven Verstand haben wir auch noch, aber den Hut auf in Bezug auf Entscheidungen und Weiterentwicklung haben Körper und Emotionen. D.h. ein Coach kann noch so viel wissen und dieses Wissen eloquent und überzeugend kommunizieren – wenn er nicht berührt, kann sich der Klient nicht verändern.
Mein Fazit: Ein wichtiges Buch für unsere Zunft, das jeder Coach lesen sollte, der mehr darüber erfahren möchte, wie warum was wirkt in seiner Arbeit mit Klienten.
5 Fragen an die Autorin
[1] Viele der großartigsten Therapeuten waren auch ohne fundiertes theoretisches Fundament genial; Erickson verweigerte ein solches sogar explizit. Könnte das Streben nach eindeutiger wissenschaftlicher Überprüfbarkeit demnach kontraproduktiv sein, indem es zu sehr auf Logik, Vernunft, Verstand setzt anstatt dem erwähnten „Flickenteppich“ kreativen und un-vernünftigen Raum zu lassen?
// ALICE RYBA: Ich denke, dass es beides braucht: wissenschaftliche Überprüfbarkeit und kreative Neuentwicklung. Das kann sich gegenseitig ganz wunderbar ergänzen. Mir kommt dazu die Sowohl-Als-Auch-Haltung der Erickson-Schüler Stephen Gilligan und Robert Dilts in den Sinn, die eine Integration verschiedener Dualitäten (z.B. Probleme/Ressourcen, Vergangenheit/Zukunft oder – wie in diesem Beispiel – Logik/Kreativität) in der neuen Generation von therapeutischen Ansätzen als zielführend erachten.
Erickson sah in einer expliziten Persönlichkeitstheorie ein Hindernis, weil sie seiner Auffassung nach die Wahrnehmung und Nutzbarmachung von Individualität einschränkt. Es ist natürlich richtig, dass es einem Berater passieren kann den Klienten vor dem Hintergrund seiner Theorie zu sehen. Dann wird der Mensch der Theorie angepasst und nicht umgekehrt. So sollte es natürlich nicht sein. Das heißt meiner Meinung nach jedoch nicht, dass Theorien keinen Wert haben. Es kommt vielmehr darauf an wie man sie anwendet und weiterentwickelt.
Viele Therapeuten, die von Erickson lernen wollten, waren schier verzweifelt, weil sie sich gewünscht hätten Struktur und explizite Modelle von ihm zu erhalten. Dies kann für den Lernprozess sehr hilfreich sein. Erickson selbst hat sich durch sein Studium, seine jahrelange Hypnoseforschung und seine Beobachtungsgabe ein theoretisches Fundament angeeignet, welches er jedoch nie explizit dargelegt hat. Seinen Vorgehensweisen lagen implizite Muster und Strukturen zugrunde, die viele seiner Schüler später herausgearbeitet und in systematischen Modellen dargestellt haben.
Insbesondere im Coaching würde ich mir mehr wissenschaftliche Überprüfbarkeit wünschen. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass ein Berater sagen kann warum er was macht und wie es wirkt. Das halte ich für sehr produktiv, auch in der eigenen Selbstreflexion und Weiterentwicklung.
[2] Wie verhält es sich mit Phänomenen, wie sie sich in der Arbeit mit Systemischen Aufstellungen, morphogenetischen Feldern, schamanischen Techniken, Ahnenarbeit, Rebirthing und anderen Vorgehensweisen zeigen, in denen metaphysische, spirituelle, raum- und zeitübergreifende Vorgehensweisen zum Einsatz kommen?
// ALICE RYBA: Das ist sicherlich ein weites Feld. Die Wirksamkeitsforschung hat herausgearbeitet, dass allen nachweislich wirksamen Methoden, von schamanischen Techniken bis hin zu moderner Psychotherapie, gemeinsame Heilelemente zugrunde liegen. Nach J. D. Frank sind dies folgende:
- Eine wertschätzende und vertrauensvolle Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Dazu gehört auch der Glaube an die Kompetenz des Helfers.
- Der Rahmen der Behandlung, insb. die „Aura“ einer anerkannten Heilstätte, die Zuflucht bietet.
- Eine explizite Behandlungstheorie, die dem Patienten sinnvoll erscheint.
- Die Anordnung von bestimmten Maßnahmen, an welche sich der Patient genau zu halten hat.
Darüber hinaus gibt es viele Phänomene und Zusammenhänge, die noch nicht befriedigend erforscht worden sind und über die ich daher an dieser Stelle keine verlässliche Aussage machen kann. In unserem Buch gehen wir auf die Bedeutung des Unbewussten ein und unterscheiden jenes vom Vorbewussten und Bewussten.
Aus neurowissenschaftlicher Sicht beinhaltet das Unbewusste alles, was grundsätzlich NICHT bewusst gemacht werden kann, weil es nicht in einem bewusstseinsfähigen Format vorliegt, wie z.B. Inhalte vor Ausreifung des Langzeitgedächtnisses (infantile Amnesie der ersten drei Lebensjahre) oder Wahrnehmungsprozesse, die die Bewusstseinsschwelle nicht überschreiten usw. Beim Vorbewussten geht es um Inhalte, die einmal bewusst waren und ins deklarative Langzeitgedächtnis „abgesunken“ sind. Sie können meist wiedererinnert werden.
Freud wie auch viele Hypnotherapeuten sprechen vom Unbewussten und davon, dass Unbewusstes bewusst gemacht werden kann. Aus neurowissenschaftlicher Perspektive liegt hier ein Irrtum vor. Nur Vorbewusstes kann bewusst gemacht werden. Das Unbewusste ist per Definition unbewusst. Wichtig ist jedoch, dass dieses Unbewusste das Bewusstsein stärker bestimmt als umgekehrt.
[3] Berufsverbände sind immer auch dafür da, Geld, Macht und Einfluss ihrer Mitglieder zu sichern und dafür ggf. auch Mittel der Ausgrenzung und Abwehr von Konkurrenz einzusetzen. Hierzu zählen auch juristische Ge- und Verbote (keine Heilsversprechen, das darf ein Coach und das nicht usw.). Außerdem geht es um finanzielle Ressourcen: dauern therapeutische Verfahren oft so viel länger als Coachings, weil die Krankenkassen dafür zahlen? Bleiben Coaches auch deshalb oft mehr an der Oberfläche, weil jede Minute, die nicht zwingend notwendig ist, das private Vermögen ihrer Klienten mindert? Welchen Einfluss hat das auf die qualitative Weiterentwicklung von Coaching und Therapie?
// ALICE RYBA: Die Frage der Abgrenzung zwischen Psychotherapie und Coaching ist heikel. Die einen Coaching-Experten propagieren in diesem Zusammenhang eine klare Trennung zwischen Coaching und Psychotherapie nach dem Motto: Coaching beinhaltet eine Beratung psychisch Gesunder, Psychotherapie hingegen ist ein Heilverfahren für psychisch Kranke.
Andere, zu denen auch wir gehören, halten eine solche Dichotomie für unangemessen und plädieren dafür, Coaching und Psychotherapie als zwei Pole einer Beratung mit einem großen Überschneidungsbereich anzusehen. Wenn es um das Fühlen, Denken und Handeln von Menschen im beruflichen, öffentlichen und privaten Leben geht, dann kann man von den Faktoren „Persönlichkeit“ und Psyche nicht absehen.
Hirnphysiologisch betrachtet, wird die Persönlichkeit eines Menschen durch drei Ebenen des limbischen Systems und eine vierte Ebene der Großhirnrinde bestimmt. Wenn Coaching oder Therapie erfolgreich sind, dann bewirken sie Veränderungen in diesen unterschiedlichen Bereichen des Gehirns. Veränderungen in der bewussten kognitiv-sprachlichen Großhirnrinde sind am wenigsten langfristig wirksam – Veränderungen in der bewussten limbischen Ebene sind wirksamer. Langfristig am wirksamsten sind Veränderungen in den unbewussten limbischen Ebenen außerhalb der Großhirnrinde.
Es hängt nun zum einen von den Methoden ab, welche Hirngebiete angesprochen werden. Zum anderen braucht es allerdings auch Zeit und Geduld, um die Denk-, Fühl- und Handlungsgewohnheiten zu verändern, die in den unbewussten limbischen Ebenen gespeichert sind. Tiefgreifende Persönlichkeitsentwicklung beansprucht daher mehr Zeit. Coaching kann aufgrund des kürzeren zeitlichen Rahmens hier nur ein „Öffner“ sein. Schwerwiegende Probleme sind daher besser in einem therapeutischen Kontext aufgehoben, in dem eine intensivere Begleitung möglich ist.
[4] Es gibt eine Fülle von Persönlichkeitsmodellen und Typologisierungen (MBTI, Big Five, DISG, Reiss, MSA usw.), die über Coaches angeboten werden. Welche passen am besten zu Eurem Ansatz?
// ALICE RYBA: Wir beziehen uns auf das neurowissenschaftliche Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit und der Psyche, welches wir in Zukunft noch weiterentwickeln werden. Aus diesem Modell ergeben sich unter anderem Persönlichkeitstypen usw. Angeregt wurde das Modell von der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD), die auch im Coaching ihre Relevanz hat (siehe dazu Möller/Kotte (2013): Diagnostik im Coaching).
[5] Wie wichtig ist die Bereitschaft des Klienten/Patienten für den Behandlungserfolg? Würdest Du hier ein Prozent-Aussage wagen? Und – bei allen Fähigkeiten und Merkmalen, die ein guter Coach/Therapeut aufweisen sollte – wie kann ein Mensch erkennen, dass er ein guter Klient/Patient ist?
// ALICE RYBA: Die Bereitschaft und Motivation des Klienten ist aus meiner Sicht das Fundament für den Behandlungserfolg. Erickson testete daher häufig die Motivation seiner Patienten, weil er diese als essentiell betrachtete.
Meiner Meinung nach gibt es keine guten oder schlechten Klienten. Es ist Aufgabe des Beraters auf die individuellen Bedürfnisse, die vorhandenen Fähigkeiten und Merkmale des Klienten einzugehen. Kurz: den Klienten dort abzuholen wo er ist. Das geht natürlich nur, wenn der Klient offen und motiviert für den Beratungsprozess ist und entsprechend mitarbeitet.
Ich würde eher den Tipp geben darauf zu achten, ob zwischen Klient und Berater eine tragfähige, vertrauensvolle Beziehung möglich ist.