du (54)
“Muss ich mich schlecht fühlen, wenn ich meine Therapeutin begehre?“
Kurze Antwort: Nein.
Lange Antwort: Es ist nicht ungewöhnlich, dass das Verhältnis zwischen Therapeutin und Klient (in?) durch überraschende Gefühle bereichert wird. Ärger, Wut, Sehnsucht, Verliebtsein, Begehren… All dies sind normale menschliche Gefühle, und es gibt keinen Grund, warum man nicht auch im therapeutischen Kontext mit diesen Gefühlen in Kontakt kommen dürfte. Menschlich.
Also, genießen Sie Ihr Begehren – aber!
Aber treffen Sie zugleich die klare Entscheidung, diesem Begehren keine Annäherungsversuche folgen zu lassen. Kein Flirt, kein wollender Blick, keine wie zufälligen Berührungen. Nichts.
Warum?
Diese Frau begegnet Ihnen ausschließlich in der Rolle der Therapeutin, und sie wäre eine verdammt schlechte Therapeutin, wenn sie sich auf das Begehren eines Klienten einließe. Intime Verhältnisse zwischen Therapeuten und Klienten sind ein absolutes No Go, denn ihnen würde immer das Momentum der Übergriffigkeit anhaften.
Warum?
Der Klient kommt deshalb in die Therapie, weil er sich in einer außergewöhnlich schwierigen seelischen Lage befindet. Schwach, unsicher, verletzt, orientierungslos, ohnmächtig. Und natürlich erwartet er von seinem Therapeuten – zu Recht –, dass dieser ihm in einer ganz anderen Verfassung begegnet: Stark, selbstbewusst, gesund, richtungweisend, klar. In einem solchen Kontrast kann keine intime Beziehung auf Augenhöhe entstehen. Im Gegenteil: Der Therapeut, oder eben die Therapeutin, müsste sich zu Recht den Vorwurf gefallen lassen, einen Schutzbefohlenen zu manipulieren, auszunutzen und ggf. abhängig zu machen oder zu missbrauchen. Viele gute Gründe, warum Ihre Therapeutin sich nicht auf Sie einlassen dürfte. – Aber Sie fragten ja nicht nach dem Begehren Ihrer Therapeutin, sondern nach Ihrem eigenen. Auch dem sollten Sie nicht weiter nachgehen.
Warum?
Würden Sie ernsthaft eine intime Beziehung mit einer Frau eingehen wollen, die sich Ihnen gegenüber im Kern missbräuchlich verhielte? Da könnten Sie ja sofort in die nächste Therapie gehen…
Liebe(r) du, ich mag Ihnen darüber hinaus noch zwei Aspekte anbieten.
Der Erfolg einer Therapie (oder eines Coachings) ist zu einem sehr großen Teil davon abhängig, dass zwischen Therapeut und Klient eine gute Beziehung besteht. Die Qualität der sogenannten therapeutischen Allianz – des Guten Drahts, der Chemie – ist gerade die Basis für eine heilsame Veränderung des Klienten. Die Kehrseite der Medaille ist dann die sogenannte Projektion. Der Klient tritt dem Therapeuten mit Gefühlen entgegen, die eigentlich gar nicht zum Therapeuten gehören, sondern zu anderen Menschen im Lebensumfeld des Klienten. Ein guter Therapeut erkennt Projektionen, setzt angemessen Grenzen, wehrt sie ab und regt an, die Projektionen selbst zum Gesprächsthema zu machen. Genau an dieser Stelle wartet ein großes Wachstumspotenzial auf den Klienten!
In Ihrer Frage bringen Sie gleich zwei starke Gefühle aufs Tablett: Begehren – und schlechtes Gewissen. Was halten Sie davon, beides in der Therapie zu thematisieren. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Sie sehr viel über sich selbst erfahren könnten, wenn Sie dieses Fass aufmachen: Wie steht es bei Ihnen mit Scham, mit Lust, mit Geilheit? Fühlen Sie sich einigermaßen frei in Ihrer Sexualität, oder gibt es da veritable Verbote? Und wer hat sie aufgestellt? Wer aus Ihrer Vergangenheit ist sozusagen mit im Bett, wenn sie mit jemandem ins Bett steigen? Kennen Sie das Gefühl, etwas Falsches zu tun, wenn Sie begehren? Wurden Sie gerügt für Ihr lustvolles Wollen? Wenn Ihre Therapeutin gut ist, wird Sie Ihnen den Raum bieten, all das zu erforschen und viel über sich zu lernen. Und es würde mich sehr wundern, wenn über diese offene Auseinandersetzung nicht auch bald ihr Begehren abkühlen sollte…
Liebe(r) du, ich mag Ihnen meinen Respekt aussprechen, dass Sie sich trauen, in einem so sensiblen Thema um Rat zu bitten. Ich mag Sie ermuntern, Ihr Begehren zu genießen (ganz für sich alleine). Und ich mag Ihnen ans Herz legen, aktiv Sorge dafür zu tragen, dass Sie die Grenze zu Ihrer Therapeutin wahren und dieses Thema ausschließlich in Form einer begleiteten Selbsterforschung in die Therapiepraxis zu tragen.
Viel Freude und viel Erfolg!
Ihr
PS. Allen Fragen und Antworten finden Sie wie immer hier