Ines (51)
„Sehr geehrter Herr Berenfänger, ich lebe mit meinem Mann und 3 Kindern in einer sehr schönen Wohngegend mit einer guten Nachbarschaft. Nun ist ein älterer Herr verstorben. Ich habe sehr oft mit seiner Frau und ihm gesprochen und – vor allem mit ihr – auch sehr persönliche Gespräche vor unserer Tür geführt: das Leben, die Kinder…. Trotz ihres Alters waren sie mir relativ nah, und ich habe sie geschätzt und gemocht. Ich möchte ihr nun eine Beileidskarte schicken mit ein paar persönlichen Worten, aber ich habe starke Widerstände, die ich mir nicht erklären kann. Haben Sie einen Impuls oder eine Idee? Danke für Ihr Feedback!“
Liebe Ines, ich möchte Ihnen mein Mitgefühl für Ihren Verlust ausdrücken. Sie haben ganz offenbar einen wichtigen Menschen verloren. Einen Menschen, der Ihr Leben bereichert hat – und das vielleicht in einem Ausmaß, das Ihnen erst durch dessen Ab-Leben so richtig klar wird.
Nun möchten Sie der Hinterbliebenen ein paar freundliche Worte schreiben. Aber es geht nicht.
Sie beginnen Ihre Nachricht an mich mit der Beschreibung einer Idylle. Beim Lesen entstehen in mir Bilder eines Ortes, an dem alles gut ist. Der Mann geht morgens zur Arbeit, derweil seine Frau die drei Kinder liebevoll mit Schulbroten versorgt und einem Lächeln in den Tag schickt. Hernach geht sie mit einer zweiten Tasse Kaffee in Ruhe in ihren Garten und trifft am Zaun auf die Nachbarn, mit denen sie einen freundlichen Schnack hält und denen sie auch mal eine Sorge anvertrauen kann. Die Nachbarn… Sie wirkt so verständnisvoll und patent und er so angenehm väterlich und vertrauenerweckend. Wie gut das tut.
Liebe Ines, das alles sind nur MEINE Gedanken. Nichts davon muss Teil Ihrer Realität sein. Dennoch schreibe ich es nieder, denn es könnte sein, dass darin ein Korn Wahrheit steckt – das Korn, das Ihnen jetzt im Halse steckt beim Gedanken, der Nachbarin Ihr Beileid auszudrücken.
Bei allem Bei-Leid: Welches Leid zeigt sich in IHNEN angesichts des Todes dieses Mannes? Wen haben SIE verloren? Ihre Nachbarin beklagt den Verlust ihres Ehemannes, und welchen Verlust beklagen Sie, liebe Ines?
Wer war dieser Mann für Sie? Was haben Sie bei ihm gefunden, das Ihnen so viel bedeutet hat? Welche Lücke hat er gefüllt, die jetzt wieder offen klafft? Was bot er Ihnen, das Ihnen schon lange kein Mann mehr geboten hat?
Vielleicht spüren Sie deshalb so starke Widerstände, Ihrer Nachbarin eine Beileidskarte zu schreiben, weil Sie das tiefe Bedürfnis verspüren, selbst Adresse von Beileid zu sein. Vielleicht wünschen Sie sich, dass endlich jeMANNd sieht, woran SIE leiden. Trotz aller Idylle schrecklich leiden.
Vielleicht ist es auch anders… Was bedeutet Ihnen Ihre Nachbarin? Welche Eigenschaften finden Sie in ihr, die Sie sich schon viel früher von einer Frau gewünscht hätten? Wie begegnet sie Ihnen, wenn Sie ihr Ihr Herz über das Leben, die Kinder und andere persönliche Kümmernisse ausschütten? Hat Ihre Nachbarin dabei etwas Mütterliches, etwas, das Halt, Geborgenheit und Zuhause-Sein ausstrahlt? Wie haben Sie solche Mütterlichkeit als Kind erlebt? Haben Sie sie erlebt? In ausreichendem Maße? Und wo erleben Sie sie heute, wo Sie selbst Mutter sind?
Liebe Ines, Sie haben diese beiden Menschen nahe an sich herangelassen und dabei offenbar selbst nährende Nähe erfahren. Was für ein Geschenk! Und jetzt hat Ihnen das Leben das weggenommen. Das kann, das darf einen traurig machen, ärgerlich, wütend. Denn wir alle brauchen Nähe, Intimität und einen Ort, wo wir uns in Sicherheit offen zeigen können. Wo wir willkommen sind, wie wir sind.
Wir alle brauchen einen Ort, wo die Liebe ist und uns empfängt.
Vielleicht beginnen Sie Ihre Beileidskarte, indem Sie einfach notieren, was Sie an Ihrem Nachbarn so schätzen. Und ergänzen es mit dem, was Sie an Ihren Begegnungen mit den beiden so schätzen. Und schließen damit, dass Sie es vermissen werden, dass es so, wie es war, nie mehr sein wird. Und dass Sie sich freuen, Ihre Nachbarin morgen wieder am Gartenzaun zu treffen.
Liebe. Trauer. Schmerz. Verlust. Liebe. Alles zugleich.
Und wenn die ersten Narben verheilt sind, machen Sie sich auf die Suche, welche Bedürfnisse dringend gestillt werden müssen. Worum Sie sich neben Mann, Kindern und Haus unbedingt kümmern sollten. Müssen. Dürfen. Können. Weil Sie es verdienen.
Dafür wünsche ich Ihnen alles Gute.
Herzlich,
Ihr
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