Heiko H. (51)
“Guten Tag du lieber Menschfreund, ich bedanke mich im Voraus der Ansicht von deiner Seite aus. Ich half einer Frau in einer schwierigen Lebenssituation und nun ist sie schon das zweite Jahr meine Mitbewohnerin. Ich weiß selbst wie es ist, wenn im Leben alles schiefläuft und möchte deshalb eine friedliche Lösung. Wie kann ich sie wohin bringen, damit sie nicht auf der Straße landet und ich mir mein Leben weiter gestalten kann? Ich wünsche uns allen ein friedvolles Miteinander. Heiko”
Lieber Heiko, es klingt, als hättest Du in Deinem Leben schon so einiges erlebt – und immer wieder Wege gefunden, mit den schwierigen Momenten zurechtzukommen. Respekt! Und jetzt hast Du offenbar auch einem anderen Menschen Herberge angeboten: für seine Probleme und ganz wortwörtlich bei Dir zuhause. Respekt! Und nun hast Du offenbar entschieden, dass Du Dein Leben in Deinem Sinne und zu Deinem Wohl weitergestalten möchtest. Respekt!
Menschen in Not zu helfen, gehört zu dem, was uns Menschen als Menschen ausmacht: Mitgefühl, Gerechtigkeit, Würde. Nothilfe kann tausend Gesichter haben. Ein aufmerksames Zuhören, eine kleine oder große Spende, tätiges Anpacken, Nachbarschaftshilfe, lautes Protestieren und vieles mehr. Du, lieber Heiko, hast Dich für eine sehr persönliche, ja, intime Form der Hilfe entschieden. Du hast einen Menschen bei Dir zu Hause aufgenommen. In Deiner Wohnung.
Dies verdient besondere Wertschätzung. Denn unsere Wohnung ist Teil unseres sicheren Raumes. Im baulichen Sinne, aber vor allem auch im mentalen, seelischen Sinne. Nicht ohne Grund wirken Menschen oft zutiefst schockiert, wenn bei ihnen eingebrochen wurde. Selbst wenn sich der materielle Schaden in Grenzen hält, bleiben oft tiefe Narben, wenn ein Fremder ohne Erlaubnis in den – vermeintlich – sicheren Raum eingedrungen ist. Auch unser Grundgesetz zollt der Besonderheit der Wohnung ausdrücklich Respekt: „Die Wohnung ist unverletzlich.“
Ich betone dies alles so ausdrücklich, weil ich beim Lesen Deines Briefs den Eindruck gewonnen habe, dass Du mit großer Zögerlichkeit und Unsicherheit in Kontakt kommst, wenn es darum geht, diese Hilfe wieder zu beenden.
Daher sage ich es laut und deutlich: Du hast alles Recht der Welt, alleine zu bestimmen und zu entscheiden, mit wem Du in Deiner Wohnung leben wilst. Du hast alles Recht der Welt, alleine zu bestimmen und zu entscheiden, dass Deine Gäste auch wieder gehen. Du hast dieses Recht bereits – meine Erlaubnis brauchst Du dafür nicht. Und auch nicht die Zustimmung Deiner Mitbewohnerin!
Gastfreundschaft ist ein Geschenk des Gastgebers – UND beinhaltet Pflichten für den Gast. Knigge schreibt über die Gastfreundschaft: „ganz ohne Verpflichtung geht es auch für den Gast nicht ab. So sollten wir das Angebot, so lange zu bleiben, wie es uns beliebt, nicht wörtlich nehmen. Ein Ende muss absehbar sein (…) Länger als drei, allerhöchstens fünf Tage sollten wir also auch die Gastfreundschaft des besten Freundes nicht in Anspruch nehmen“. (Quelle)
Drei Tage! Und Deine Mitbewohnerin, lieber Heiko, ist bereits „das zweite Jahr“ Dein Gast!
Wenn es Dir hilft, wiederhole ich gerne noch mal, was ich oben gesagt habe: Du darfst Deinem Gast die Tür weisen!
Du wünschst Dir, dass Dein Gast nicht wieder auf der Straße landet. Das ist zutiefst ehrenwert – UND es liegt nicht bei Dir, dafür zu sorgen. Es ist Aufgabe Deiner Mitbewohnerin, für sich zu sorgen. Wenn sie es nicht kann, darf sie um Hilfe bitten und zwar nicht nur Dich.
Ich empfehle Dir, beides zu tun: Fördern und fordern. Fordere sie unmissverständlich auf, binnen einer von Dir allein festgelegten Frist auszuziehen. Fördere sie, indem Du ihr Adressen staatlicher oder kirchlicher Organisationen gibst, wo sie ein neues Obdach finden kann, wenn es ihr nicht selbst gelingt, bis zu ihrem Auszug eines zu finden. Womöglich begleitest Du sie dorthin. Du wirst das rechte Maß an Betreuung finden, das Du für Deinen Seelenfrieden brauchst.
Aber! Dass Dein Gast jetzt ausziehen muss – nach über 365 Tagen großzügig gewährter Gastfreundschaft – steht nicht zur Debatte. Ganz gleich, wie sehr Deine Mitbewohnerin klagen, wüten oder trotzen sollte. Sie ist selber groß und darf mit ihren Emotionen selber klarkommen. Du, lieber Heiko, kümmerst Dich um DEINE Gefühle.
Insbesondere darfst Du akzeptieren, dass Grenzensetzen auch auf Widerstand treffen kann. Dass Nettsein nett ist, aber den Schatten des Ausgenutztwerdens bereithält. Akzeptiere, dass das Ziehen und Aussprechen von Grenzen nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht ist!
Mal ganz ehrlich: Diese Trennung wird nicht „friedvoll“ ausgehen! Wie denn auch? Das wäre nach den besagten 3 Tagen möglich gewesen, aber nicht nach einer über hundert Mal längeren Zeit. Dieser Zug ist abgefahren. Punkt.
Lieber Heiko, akzeptiere, dass Du das Recht und die Pflicht hast, Dich jetzt endlich angemessen um den wichtigsten Menschen in Deinem Leben zu kümmern: um Dich selbst. Ich brauche Dir nicht zu sagen, wieviel Kraft und Mühe es kosten kann, sich um jemanden in Not zu kümmern. Aber bitte wende jetzt mindestens genauso viel Kraft und Mühe auf, Dich um DEINE Nöte zu kümmern.
Du dienst der Welt nicht, wenn Du Dich erschöpfst. Wenn Du ausbrennst, in innerer Lähmung verschwindest, in schlechtem Gewissen badest. Schluss damit! Entscheide Dich jetzt entschieden dafür, Deinen Raum – wortwörtlich und seelisch – wieder zu beschützen.
Lieber Heiko, ich habe Deine Frage auch einem Anwalt gezeigt, weil ich den Gedanken hatte, dass diese Angelegenheit vielleicht auch eine rechtliche Komponente hat. Wie ist denn das Verhältnis zwischen Dir und Deiner Mitbewohnerin geregelt? Zahlt sie Miete? Hat sie einen Mietvertrag? Frage einen Anwalt, welche Rechte Du nach einer so langen Zeit hast, sie vor die Tür zu setzen. Vielleicht rät er Dir auch zu einer Mediation, um die Möglichkeit einer „friedlichen“ Trennung zu erhöhen. Solltest Du kein Geld für eine Rechtsberatung haben, frage bei der Stadt oder der Kommune nach den Möglichkeiten einer kostenfreien Rechtsberatung. Auch die Caritas oder andere kirchliche Stellen könnten hier vielleicht Tipps für Dich haben.
Ein Letztes noch, lieber Heiko: Es scheint mir, als ob Du Dich schuldig fühlen würdest, wenn Du Deinen Gast aufforderst, wieder auszuziehen. Schließlich ging es Dir auch schon schlecht, und Du warst auf Hilfe angewiesen. Es ist wunderbar, dass Du nun Deinerseits Hilfe gewährst, nachdem Du selbst auch mal in Not gewesen warst. Respekt! Aber es besteht keinerlei Schuld-Verhältnis! Weder mit Deiner Mitbewohnerin noch mit dem Leben oder mit einem Gott. Du bist ein freier Mensch, der sich nicht für seine Freiheit rechtfertigen muss. Wenn hier jemand bei jemandem in der Schuld steht, dann Dein Gast bei seinem Gastgeber!
Lieber Heiko, es ist DEIN Leben. Du hast nur eines. Gestalte es nach Deinen eigenen Grundsätzen, Träumen und Werten. Jetzt!
PS. Allen Fragen und Antworten finden Sie wie immer hier