Wann ist ein Mann ein Mann? Ein richtiger Mann, wie man so schön sagt. Kein Softie, kein Macho, kein Bubi, kein Möchtegern-Rambo. Eine gute Antwort liefert das 3-Stufen-Entwicklungsmodell zum Reifen Mann.
Man kann die männliche Entwicklung in einem 3-Stufen-Modell beschreiben. Nur die erste Stufe betreten wir zwingend; für die beiden nächsten Stufen muss der Mann sich bewusst entscheiden und etwas dafür tun.
1. Stufe: Der infantile Mann
Die Phase der ersten Selbstfindung und Identitätsbildung. Beginnend als Kind und Pubertierender. „Wie bin ich ein richtiger Mann?“ Antworten stark abhängig vom Umfeld (Peer Group, Medien, Kultur…). Großer Wunsch, dazuzugehören.
2. Stufe: Der initiierte Mann
Phase der bewussten Loslösung von der Mutter (sog. Zweite Geburt) und der Versöhnung mit dem Vater. Selbsterforschung hinsichtlich archetypischer männlicher Qualitäten. Überwindung der Abhängigkeit vom Weiblichen. Anschauen der Lebenswunde. Kontakt mit der eigenen Aggression. Kultivierung der Polarität und Ausbildung eines selbstbewussten, stabilen männlichen Pols. Attraktiv werden für den anderen Pol. Hierfür braucht es einen Kreis von Männern unter Leitung eines erfahrenen Teachers mit hoher, persönlicher Autorität.
3. Stufe: Der reife Mann
Überwindung der Polarität. Erkenntnis, sich nicht für ein Ufer entscheiden zu müssen (männlich oder weiblich); kein Pol ist besser oder wichtiger als der andere. Kultivierung des gegengeschlechtlichen Seelenanteils in sich selbst. Überwindung der Einschränkungen, die die Begriffe „Mann/männlich“ und „Frau/weiblich“ mit sich bringen. Erkenntnis und Anerkennen, dass Sexualität eine zentrale Lebensenergie und Quelle von Wohlbefinden auch weit jenseits reiner Geilheit ist. Wertschätzung aller sexuellen Identitäten, Präferenzen und Orientierungen. Eigenverantwortung und Consent als unverhandelbare Grundlage für intime und sexuelle Begegnungen. Hierfür braucht es ein intimes Sich-Beziehen auf das andere Geschlecht: in einer Partnerschaft, monogam oder polyamor, zu zweit oder im Kreis.
Der reife Mann hat die Bedürftigkeit überwunden, durch sexuelle Vereinigung mit einem Menschen des anderen Pols in Kontakt mit Qualitäten zu kommen, die ihm ansonsten unzugänglich blieben. Denn reife Mann bildet bereits alle menschlichen Qualitäten in sich selbst aus. Der reife Mann erlebt Sexualität aus der Freude der Fülle heraus und nict aus dem Frust eines Defizits. – kurz: Der reife Mann ist ein sexpositiver Mann (siehe unten).
Der reife Mann ist wie ein Baum. Mit Wurzeln und Ästen, die in Bewegung sind – und einem Stamm, der in Ruhe geht. Beides zugleich. Beides gleich wichtig.
Wie geht das?
Es handelt sich um ein Entwicklungs-Modell. Eine Stufe folgt der nächsten. Keine Stufe kann übersprungen werden. Jede Stufe enthält alle Qualitäten der vorherigen Stufe.
Immer mehr Männer machen sich auf den Weg, ihr Mann-Sein zu ergründen und zu festigen. Dabei kann man zwei divergierende Herangehensweisen beobachten:
- Die einen trainieren sich eine sog. Alpha-Männlichkeit an. Ich bin Boss. Ich bin der überlegene Mann. Nichts geht über meine Freiheit. Aggressive Virilität.
- Die anderen konzentrieren sich auf die Kultivierung von Empathie, Sensibilität, Freundlichkeit, Rücksichtnahme. Die Frau auf den Thron setzen. Passives Nett-Sein.
Da beide Herangehensweisen nur einen Aspekt betonen bzw. einen Aspekt negieren, entsteht in beiden Fällen irgendwann Leid. Der Alpha-Mann neigt zu Arroganz und Überheblichkeit, der nette Mann wirkt sexuell unattraktiv und wattebäuschig.
Der initiierte Mann verbindet beide Aspekte und bringt sie in Balance. Und danach, aber erst danach, kann der Mann den nächsten Schritt gehen hin zum reifen Mann.
Und dort wartet dann die ganze Fülle des Menschseins.
Was heißt sexpositiv?
Was ist Sexpositivität?
Versuch einer Definition:
Sexpositivität ist Quelle und Ausdruck umfassender psychosozialer Gesundheit.
Ein sexpositiver Mensch …
- … kultiviert eine innere Haltung, die den Menschen als sexuelles Wesen ehrt und feiert.
- … entscheidet sich ausschließlich nach einem euphorischen Ja aller Beteiligten für sexuelle Begegnungen.
- … übernimmt die Verantwortung für die eigenen Wünsche und Grenzen als Grundlage sexueller Begegnungen in Wahrhaftigkeit.
- … betreibt persönliche Entwicklung für ein Denken des UND auf allen Ebenen.
- … eignet sich das Wissen an, das es für gesunde und freudvolle sexuelle Begegnungen braucht.
- … prägt die Gemeinschaft durch seine gleichwertige Achtung aller sexuellen Identitäten und Präferenzen.
Sexpositivität ist kein Zustand, sondern eine Absicht. Sie ist nichts fest Definiertes, das final erreicht werden könnte, sondern ein Ideal, das so vielfältig und lebendig ist wie die Menschen und ihre Sexualitäten. Ein sexpositiver Mensch gibt seinem Denken und Handeln eine Richtung ohne Anspruch auf eine absolute Wahrheit.
Man könnte Sexposititvität in 6 Aspekten stichpunktartig so beschreiben:
1.) Sexpositivität ist eine innere Haltung
- Eine Haltung, die Sexualität als zentrale Quelle für Gesundheit, Wohlbefinden und Verbindung betrachtet.
- Eine Haltung, die Sex nicht mehr aus der Perspektive von Scham und Sünde denkt, sondern aus dem Blickwinkel von Fülle und Möglichkeit.
- Eine Haltung, die das Schöne in jedem Menschen zu entdecken bereit ist und Menschen nicht abwertet, die man persönlich nicht attraktiv findet.
- Eine Haltung, die mir ermöglicht, mich überraschen zu lassen. Vielleicht bereichert gerade der Mensch mein sexuelles Leben, der auf den ersten Blick nicht in mein Beuteschema passt – oder in das allgemeine Schönheitsideal.
- Eine Haltung, die jedem Geschlecht mit Verehrung begegnet.
2.) Sexpositivität ist eine Entscheidung
- Ich entscheide mich dafür, Sexualität in allen Ausrichtungen, Sehnsüchten, Vorlieben, Identitäten als gleichwertig zu betrachten. Voller Neugier und Respekt.
- Ich entscheide mich dafür, nur dann in sexuellen Kontakt zu gehen, wenn alle Beteiligten mit offenem Herzen Ja dazu sagen.
- Ich entscheide mich dafür, dass nur ein euphorisches Ja ein Ja ist.
- Ich entscheide mich dafür, Kategorien wie “richtig” und “falsch”, “gut” und “schlecht” als nicht brauchbar zu betrachten, wenn es um sexuelle Identitäten und Präferenzen geht.
- Ich entscheide mich, immer wieder den Weg vom Ich zum Du zum Wir zu gehen. Und wieder zurück. Und wieder von vorn.
3.) Sexpositivität ist Eigenverantwortung
- Ich übernehme die Verantwortung dafür, Nein zu sagen, wenn ich etwas nicht möchte.
- Ich übernehme die Verantwortung dafür, klar zu sagen, was ich möchte.
- Keine Spielchen – stattdessen Wahrhaftigkeit. Zuerst und vor allem mir selbst gegenüber; meiner Seele und meinem Körper.
- Ich delegiere mein Wohlbefinden nicht an meine Partner. Ich delegiere meinen Schmerz und meine ungeklärten Traumata nicht an meine Partner.
4.) Sexpositivität ist Entwicklung
- Als sexpositiver Mann habe ich keine Angst vorm Schwulsein. „Schwul“ kann gar kein Schimpfwort sein.
- Als sexpositiver Mann kann ich auf freie und selbstbewusste Frauen stehen, ohne mich erheben oder drunterstellen zu müssen. „Schlampe“ kann gar kein Schimpfwort sein.
- Als sexpositiver Mann kann ich mich hingeben und auch meine stillen und zärtlichen Seiten zeigen, ohne mich schwach zu fühlen.
- Als sexpositiver Mann führe ich, ohne brutal zu werden.
- Als sexpositiver Mann flirte ich, ohne als tumber Macho aufzufallen.
- Als sexpositiver Mann begehre ich, ohne bedürftig zu sein.
- Als sexpositive Frau gehe ich in meine Macht, ohne zu verhärten.
- Als sexpositive Frau kann ich nehmen, ohne mich unweiblich zu fühlen.
- Als sexpositive Frau kann ich aktiv auf potenzielle Sexualpartner zugehen und genieße Sex, ohne mich als Schlampe zu fühlen.
- Als sexpositive Frau bewerte und behandle ich meinen Körper ausschließlich nach meinen eigenen Maßstäben.
- Als sexpositive Frau kann ich Männer wählen, die weniger verdienen, kleiner sind, gerne Care-Arbeit machen.
- Als sexpositive Frau sehe ich Frauen als Schwestern und nicht als Konkurrentinnen.
- Als sexpositive Frau begegne ich Männern nicht verächtlich und nicht unterwürfig.
- Als sexpositiver Mensch kann ich BDSM lieben, ohne Missbrauch oder Vergewaltigung die Tür zu öffnen.
- Als sexpositiver Mensch schätze ich die Polarität, und befreie mich aus begrenzenden Geschlechter-Stereotypen. Im Denken, im Sprechen.
- Als sexpositiver Mensch ehre ich das Männliche und das Weibliche gleichermaßen und bleibe zugleich bei diesen Kategorieren nicht stehen. Ich ehre alle Erscheinungsformen, die im Zusammenspiel zwischen Männlichem und Weiblichem existieren und sich einer Eindeutigkeit entziehen.
- Als sexpositiver Mensch diffamiere ich Huren und Sexworker nicht.
5.) Sexpositivität ist Wissen
- Als sexpositiver Mensch kenne ich mich mit dem Körper aus. Mit meinem und mit dem gegengeschlechtlichen.
- Alle Menschen haben freien Zugang zu Informationen über Sexualität, Körper, Aufklärung etc.
- Ich weiß, dass es viel mehr gibt als Rubbeln, um einem Schwanz Freude zu bereiten. Ich weiß, dass die Klitoris keine kleine Perle ist. Ich weiß, das Vögeln mehr ist als drei Minuten Pumpen. Ich weiß, dass der G-Punkt existiert auch Squirten eine Realität ist. Ich weiß, dass der Orgasmus kein Muss ist, der erreicht werden muss.
- Ich weiß, was Consent meint.
- Ich weiß, dass ich eine persönliche Prägung mitbringe, die meine Reaktion auf die Welt und meine Sexualität maßgeblich prägt. Ich weiß, dass (nur) ich dafür verantwortlich, bin hierfür einen gesunden Umgang zu finden.
- Ich weiß, dass Gleichwertigkeit nicht bedeutet, alle Unterschiede zu verwischen und dass Sicherheit nicht bedeutet, alle Zumutungen zu entfernen (auch nicht auf sexpositiven Partys etc.).
- Ich weiß, dass Sprache wichtig ist. Zum Beispiel bei der korrekten Benennung der Geschlechtsorgane oder Sensibilität für den Wunsch, nicht nur mitgemeint, sondern auch tatsächlich angesprochen zu werden.
6.) Sexpositivität ist politisch
- In einer sexpositiven Gesellschaft ist Sexualität nur eine Sache der an den sexuellen Beziehungen Beteiligten. Staat, Kirche und Justiz halten sich raus. Eine sexpositive Gesellschaft ist eine freie Gesellschaft. Beschränkungen werden nur dort vorgenommen, wo Übergriff und Missbrauch stattfinden bzw. drohen.
- In einer sexpositiven Gesellschaft wäre kein Bedarf mehr für beschämende TV-Shows, Frauenmagazine mit sexistischen Tipps, Pornos mit einem IQ und EQ unter Null.
- In einer sexpositiven Kultur sind Spiritualität und Sexualität kein Widerspruch mehr; die frauenfeindlichen Attitüden der Religionen wären Vergangenheit.
- In den Schulen würden wir offen über das Schöne an Sexualität sprechen, und es wäre nicht peinlich, als Frau ohne BH herumzulaufen.
- Feminismus ist normal – und längst Vergangenheit. Femiziide kennt man nicht mehr.
- Mitfreude statt Eifersucht. UND statt Trennung. Verbindung statt Spaltung.
In-Bewegung-Sein UND In-Ruhe-Gehen.
Männlichkeit und Sexpositivität in Film, Buch und Praxis
Im Mai 2020 habe ich auf zwei Kongressen zu diesen Themen gesprochen: Sexolution & MannSein-FrauSein. Nachfolgend finden Sie jeweils einen kurzen Ausschnitt daraus (die kompletten Vorträge finden Sie hier). Gerne empfehle ich Ihnen mein Buch “Der reife Mann. Männlichkeit jenseits der Polarität” und lade Sie zu meinem regelmäßig stattfindenden virtuellen Männerkreis ein.