Was haben Business-Coaches, Lebensberater, Heilpraktiker, Tantralehrer, Männertrainer, Therapeuten, Alternativmediziner, Energieheiler, NLP-ler u.a. gemeinsam? Wo genau ist die Schnittmenge, in der sich diese Menschen begegnen?
Sie unterstützen ihre Klienten, sich zu lieben. Sich ok zu finden. Sich ihrer selbst bewusst und dadurch selbstbewusst zu werden. Sie sind Gesprächspartner für Unsicherheiten, Ängste, Schambehaftetes. Sie öffnen den Menschen einen Raum, in dem sie nicht abgewertet werden; in dem sie im besten Fall überhaupt nicht bewertet werden. In dem sie richtig sind, einfach, weil sie Mensch sind. Einen Raum des Nichtt-Müssens. Im besten Fall einen Raum der unveräußerlichen Würde.
- Die Religionen wollen einen solchen Raum nicht bieten, denn es geht ihnen um die Sicherstellung von Macht durch Unterdrückung, Diskriminierung und Schuldzuweisungen.
- Die Medizin kann einen solchen Raum nicht bieten, denn sie fokussiert sich auf Evidenzbasiertheit und Effizienz.
- Die Politik darf einen solchen Raum nicht bieten, denn sie muss einen Interessenausgleich durch vernünftige Gesetze in den Blick nehmen.
- Die Familien und Schulen sollen einen solchen Raum nicht bieten, denn sie stehen unter dem unausgesprochenen Primat, folgsame Konsumenten heranzuziehen, die das patriarchale und kapitalistische Immer-Mehr klaglos weiterbefördern.
Ohne die Erfahrung der eigenen Würde aber ist ein menschenwürdiges Leben nicht möglich. Selbstbewusstein, Selbstachtung, Selbstwert nicht bloße Skills fürs Business. Das Wissen, ein liebenswerter Mensch zu sein, ist Zweck menschlichen Lebens.
Alle Menschen haben ihr Päckchen zu tragen. Nur sehr wenige gehen mit einem stabilen Urvertrauen durchs Leben. So viele wurden schon als Kleinkinder traumatisiert. Die meisten werden noch als Erwachsene regelmäßig verletzt.
Die Menschen, die die oben genannten Tätigkeiten ausüben, leisten also eine grundsätzlich lebenswichtige und unverzichtbare Tätigkeit. Und die Menschen, die sich ihnen anvertrauen, sind keinesfalls tumbe Esoteriker, sondern Menschen, die ihr Leben auf die Reihe kriegen wollen.
Trotzdem!
Trotzdem sind in Berlin offenbar viele Menschen marschiert, die zwar Liebe aufs Plakat gepinselt, aber Hass verbreitet haben. Wie konnte es dazu kommen?
Wer jemals an Maßnahmen zur Persönlichkeitsentwicklung teilgenommen hat, wird das Gefühl kennen, das sich einstellt, wenn die Maßnahmen gut gelaufen sind. Entspannung, Freude, Rührung, Euphorie, Selbstbewusstsein, Herzlichkeit. Für viele ist es das erste Mal im Leben, dass sie sich angenommen und richtig und frei von Schuld fühlen.
Das ist großartig und wichtig und jeder Anerkennung wert.
Aber!
An dieser Stelle enden die allermeisten Maßnahmen der Persönlichkeitsentwicklung. Man hört auf, wenn es am schönsten ist.
Dabei müsste die Arbeit hier erst beginnen! Bis hierhin ging es sozusagen um die nötigsten Reparaturen. Bis hierhin ging es darum, überhaupt erst arbeitsfähig zu werden, was tiefgehende Persönlichkeitsentwicklung angeht.
Die meisten Teilnehmer und leider auch sehr, sehr viele Berater halten das, was bis hierhin geschehen ist, für ihre eigentliche Arbeit und sonnen sich im verdienten Wohlgefühl.
So aber lockt die böse Falle: das esoterische Ego. Dem dringend nötigen Bezug aufs Ich folgt keine Hinwendung zum Du, geschweige denn zum Wir:
- Aus dem liebevollen Ich-Bin-Richtig wird ein Ich-Bin-Ja-So-Bedeutsam und oft ein Ich-Bin-Richtiger-Als-Du
- Das liebevolle Selbst pervertiert zum hämischen Ego
- Aus Selbstbewusstsein wird Egoismus
- Aus der Offenheit für eine Wirklichkeit jenseits von Logik und Wissenschaft wird eine Verachtung von Vernunft und Fakten
- Aus dem punktuellen Erleben von Eins-Sein mit sich und der Welt wird eine Selbst-Überhöhung als Erwachter
- Aus mystischen Erfahrungen wird eine Offenheit für Verschwörungsideologien
- Aus der inneren Erfahrung von Wahrheit wird ein Glauben an eine Matrix im Außen
- Aus dem Erleben von Einfach-Sein wird ein Simplifizieren der Welt
- Aus der Erfahrung machtvoller Einflüsse auf das eigene Wohlbefinden wird ein Glauben an Einflüsse machtvoller Eliten
- Aus dem Wissen, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als die Wissenschaft weiß, wird ein Glauben an Reptiloiden und Aluhüte
Jetzt aber müsste die Arbeit eigentlich erst losgehen:
- Klarkommen mit Nichtwissen
- Verzichten auf den Gedanken, dass es immer für alles und alle eine richtige Lösung gäbe
- Aushalten von Ambivalenzen
- In-Schach-Halten des eigenen Narzissmus
- Wissen, dass man nicht weiß
- Demut und Bescheidenheit lernen
- Beim Spüren und Fühlen das Denken nicht vergessen
- Sich wichtig nehmen, ohne sich wichtig zu nehmen
- Erwacht-Sein nicht für etwas Besonderes halten
- Wut, Empörung und Vernichtungsfantasien als Warnzeichen begreifen
- Die eigene Wahrheit hinterfragen und sich weiterbilden
- Vorgänge, die im Herzen gefühlt werden, nicht in scheinbar logische Kausalitäten außerhalb des Herzens verwandeln
- Ängste und Unsicherheiten nicht durch Vereinfachungen betäuben
- Der Eitelkeit widerstehen, sich wissender, liebevoller, erwachter zu wähnen als die Massen
Das aber ist anstrengend. Frustrierend. Hier wird man leise. Die Eitelkeit fühlt sich gekränkt. So hatte man sich das alles aber nicht vorgestellt! Es sollte doch alles einfacher werden und nicht komplizierter und komplexer!
Die Arbeit, die jetzt folgen müsste, können Berater aus zwei Gründen oft nicht anbieten:
- Sie wird nicht (ausreichend) nachgefragt. Es gibt kaum einen Markt dafür. Es lohnt sich finanziell nicht.
- Sehr viele Berater stehen selbst noch auf der ersten Stufe und wissen demzufolge gar nicht, was sie da anbieten sollten.
Wie kann es also weitergehen?
Ich weiß es nicht. Es gibt hier keine einfachen Lösungen. Der erste Schritt wäre – und das wäre schon unglaublich viel: Nicht die Hoffnung aufgeben. Trotz den Berlinern in der Liebe bleiben. Nicht zynisch werden und sich angesichts des Nazi-Eso-Bündnisses und der floskelhaften Untätigkeit von Politik und Polizei nicht in Wut verlieren. Nicht in der Trauer untergehen, dass man sich von langjährigen Freunden und Kollegen verabschieden muss, um seelisch nicht kaputt zu gehen.
Es geht erst einmal nur in uns selbst weiter. Im Wissen und im Vertrauen darauf, dass die Welt sich ändert, wenn eine hinreichende Zahl an Menschen diese innere Arbeit individuell leistet. Dann geschieht kollektiv Transformation. Nur können wir die nicht machen, nicht herbeizwingen. Sie ergibt sich aus sich selbst im liebevollen Lassen.
Und hej! Du bist nicht allein ❤︎