Jana (29) fragt:
“Wie erlange ich Entscheidungssicherheit, wenn beide Alternativen ähnlich viele und ähnlich stark gewichtete Pro- und Contra-Argumente vorweisen und auch das Bauchgefühl zwiespältig ist?”
Liebe Jana,
das klingt nach einer herausfordernden Situation, in der Sie da stecken. Da ich nicht weiß, wo genau Sie eine Entscheidung treffen wollen – geht es um eine Berufswahl, um eine Liebesbeziehung, um eine neue Wohnung? – werde ich in meiner Antwort allgemeine Prinzipien der Entscheidungsfindung darlegen in der Hoffnung, dass Sie für sich etwas Konkretes daraus machen können.
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In meiner Coaching-Praxis greife ich für solche Gelegenheiten gerne auf die Methode des Tetralemma zurück, die ihre Ursprünge im Gerichtswesen des alten Indien hat. Ein Teil dieser Methode besteht darin, zu schauen, was man tun könnte, damit sowohl das Eine als auch das Andere zu seinem Recht kommt.
Die bekannteste Form ist sicher der Kompromiss: Beide Seiten bekommen etwas und beide geben etwas her. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Formen des Sowohl-Als-Auch. Diese im Detail zu erläutern, würde den Rahmen dieser Antwort sprengen, aber ich biete Ihnen gerne ein paar Fragen an, die Sie vielleicht zu einer ungeahnten Lösung anregen:
- Gibt es Aspekte, die Sie aus dem Einen und aus dem Anderen herauslösen könnten, um die dann miteinander zu verbinden?
- Unter welchen Rahmenbedingungen könnte ein Nebeneinander von dem Einen und dem Anderen gelingen?
- Wenn das Eine und das Andere zwei Seiten derselben Medaille wären: Welche Medaille wäre das? Wie hieße die?
- Wenn Sie eine gemeinsame Überschrift für das Eine und das Andere formulieren würden: Wie würde die lauten?
- Wenn sich das Eine und das Andere in einer optimalen zeitlichen Reihenfolge abwechseln würden: Wie sähe das konkret aus?
- Angenommen, im Einen und im Anderen schlummerte jeweils ein verborgener Schatz: Was wäre das? Wie sähe der aus? Wie würden Sie diesen Schatz bergen?
- Wenn Sie für einen Moment annehmen würden, dass es gut wäre, dass Sie in diesem Dilemma stecken: Worin hätte diese Situation ihr Gutes?
- Stellen Sie sich vor, Sie würden das Eine und das Andere miteinander zu etwas Neuem verweben: Was würde daraus entstehen?
- In welchem Kontext wäre das Eine am besten aufgehoben, und in welchem Kontext das Andere? Und welche Klammer könnte diese beiden Kontexte miteinander verbinden?
- Stellen Sie sich vor, Sie würden in zehn Jahren erkennen, dass dieses Dilemma das Beste war, was Ihnen passieren konnte: wie würden Sie das Gute daran beschreiben?
- Wenn Sie sich ausschließlich für eine der beiden Positionen entscheiden und sich gleichzeitig für die andere wertschätzend bedanken müssten: Wofür würden Sie Dank sagen?
- Angenommen: Sie müssen binnen fünf Sekunden Ihre Wahl treffen. Andernfalls verlören Sie beide Optionen für immer. Welche Entscheidung treffen Sie genau jetzt?
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Oft wissen wir in einer Entscheidungssituation sehr genau, was wir gewinnen, wenn wir uns so oder so entscheiden. Dabei übersehen wir häufig, dass ein Entscheiden immer auch einen Preis kostet. Wir scheiden etwas ab, wenn wir ent-scheiden. Je nach Schwere der Entscheidung kann das mit Trauer und Schmerz einhergehen. Diesen Preis müssen wir offen anschauen, um die damit verbundenen Gefühle annehmen und würdigen zu können. Welchen Preis zahlen Sie bei den jeweiligen Varianten?
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Manchmal kann eine gute Entscheidung auch sein, sich zu entscheiden, dass man jetzt gerade keine Entscheidung treffen kann. Sollte diese Entscheidung noch andere Menschen betreffen, so müsste man ihnen dies offen sagen, so dass sie sich ihrerseits dazu verhalten können. Eine klare Entscheidung für eine Noch-Nicht-Entscheidung nimmt bisweilen viel Druck aus dem Kessel…
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Eine Binsenweisheit, die doch oft vergessen wird: Entscheidungen können durch neue Entscheidungen ersetzt werden. Zwar können manche Entscheidungen nicht mehr rückgängig gemacht werden – und doch können wir uns jederzeit dazu entscheiden anzuerkennen, dass nach der ersten Entscheidung eine zweite folgen darf, die ganz anders ausfällt als die erste.
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Zuguterletzt: Wenn Sie sich absolut sicher sind, dass Pro und Contra bei beiden Optionen ausgeglichen sind, dann wäre es die schlechteste Entscheidung, keine Entscheidung zu treffen und den Lauf des Schicksals entscheiden zu lassen. Denn damit würden Sie eine Opfer-Position wählen, die nicht gut tut und auch auf Außenstehende eher negativ wirkt. In diesem Fall wäre eine viel bessere Entscheidung, den Zufall entscheiden zu lassen. Lieber ein aktiver Entscheid per Los als ein inaktiver durch Dauer-Zaudern.
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Liebe Jana, ich hoffe, einer dieser Impulse ist für Sie hilfreich, und Sie können nun beherzt Ihre Wahl treffen.
Mit den besten Grüßen