Richard (30)
„Ist in einer offenen Beziehung Nähe und Verschmelzung im gleichen Maße wie in einer monogamen Beziehung möglich? Oder bedeutet eine offene Beziehung in dieser Hinsicht das Eingehen von Kompromissen, da ja quasi noch andere Menschen “zwischen” den Beziehungspartnern sind? Die Begegnungen mit anderen Menschen sind sexueller Natur, also keine Polyamorie.“
Lieber Richard, kurz gesagt: Ja.
Beziehung ist Beziehung ist Beziehung. Auch wenn wir ihr Etiketten anheften wie „monogam“, „offen“, „sexuell“, „polyamor“. Ich verstehe den Zweck solcher Etiketten. Sie sollen Ordnung und Struktur spenden – oder zumindest so tun – und uns dadurch Sicherheit ermöglichen. Sicherheit auf einem Gebiet, das gerne mit Unsicherheit, Verworrenheit, Ambivalenzen, Verletzungen, Ängsten und manch anderen unerwünschten Gefühlen aufwartet.
Und es ist natürlich völlig legitim, das zu tun. Aber für Ihre Frage mag ich dazu einladen, all diese Etiketten für einen Moment beiseitezulassen. Was bleibt dann übrig?
Ein Mensch, der sich intim auf andere Menschen bezieht.
Betrachtet man es auf diese Weise, schließt sich sofort die Frage an: Was brauchen Sie, lieber Richard, um in einer intimen Beziehung „Nähe und Verschmelzung“ zu erleben? Konkret Sie und konkret was?
Wenn Sie das wissen, können Sie herausfinden, ob ein solches Erleben mit Ihren Beziehungspartnern möglich ist. Mit wem genau? Unter welchen Bedingungen? Jetzt geht es um Wahrhaftigkeit, Mut, Eigenverantwortung und Kommunikation.
Da das Feld aus Intimität, Lust, Liebe und Sex gut geeignet ist, auch deren Antagonisten aufs Feld zu locken – Distanz, Frust, Angst und ungewollte Keuschheit –, ist es zielführend, nicht nur auf sich selbst zu schauen, sondern auch auf den Andern. Bei mehreren Anderen auf mehrere Andere.
Jeder hat seine eigenen Wünsche, Fantasien, Sehnsüchte, Fetische, Träume – und Grenzen. Je mehr Beteiligte, desto mehr Reden darüber.
Was wir hierbei häufig übersehen: In dem Moment, in dem wir eine Beziehung mit jemandem eingehen, schließen wir einen Vertrag miteinander. Wir schreiben eine Liste mit zwei Spalten: Ab sofort darfst Du das mit mir! Ab sofort darfs Du das nicht mehr (mit Dir selbst oder mit anderen)!
Das Problem ist nur: Wir reden nicht darüber, was auf diesen Listen steht. Vielmehr tun wir so, als müsste der/die andere das doch einfach wissen und als müsste der/die andere das genau so sehen wie wir.
Großer Fehler!
Und statt ehrlich und offen und mutig und achtsam darüber zu reden, wie wir unsere Beziehungsverträge gerne gestalten möchten – um Liebe und Verschmelzung zu erleben, Lust und Orgasmen, Leidenschaft und Ekstase – greifen wir in die täglich größer werdende Box aus Etiketten.
In der Hoffnung, dass wir ums Reden und Uns-Offenbaren drumherum kommen, wenn wir nur irgendwie das passende Etikett auf unsere Beziehungen kleben.
Lange Rede, kurzer Sinn. Lieber Richard, Sie können grundsätzlich in jeder Beziehung zu einem anderen Menschen Nähe und Verschmelzung erleben. Das hängt nur davon ab, wie Sie beide Ihre Beziehung gestalten. Welche Absprachen Sie treffen. Wie Sie aufeinander eingehen. Wie sehr Sie sich öffnen und hingeben. Wie gut Ihre erotische Passung ist. Usw.
Nähe und Verschmelzung wird allerdings dann schwierig oder unmöglich, wenn Sie im Versuch, sie zu erleben, andere Menschen verletzen. Entweder Dritte, indem Ihr Verschmelzungsversuch gegen bestehende Absprachen (Verträge) verstößt, oder sich selbst, indem Sie aus Mutlosigkeit oder schlechtem Gewissen Schranken in Ihrem Kopf, Ihrem Herzen, Ihrem Unterleib errichten.
Sagen Sie all Ihren Beziehungspartnern, dass Sie mit vielen oder allen Ihren Beziehungspartnern – aktuellen wie zukünftigen – Nähe und Verschmelzung erleben wollen und dass Sie dafür tun, was nötig ist. So geben Sie Ihren anderen Beziehungspartnern die Chance, sich dazu zu verhalten. Und dann können Sie alle gemeinsam Ihr System so ausbalancieren, dass es am Ende keine Etiketten mehr braucht, sondern nur noch Lust und Liebe, Mitfreude und Mitgefühl.
Viel Spaß!
PS. Allen Fragen und Antworten finden Sie wie immer hier